Wem gehört das Privatleben der Politiker?

TEXT: STEPHAN ISERNHAGEN, PARIS
BILDER:
BÜRGERSCHAFT HAMBURG


Der Schill-Eklat im August: Einige Tage lang steht die Hansestadt Hamburg im Mittelpunkt der Medienberichterstattung Deutschlands. Eine kleine Polit-Affäre im Hamburger Rathaus - von der nach der Schill-Entlassung niemand mehr spricht - weitet sich aus zu einer Schlammschlacht, bei der ganz Deutschland dabei ist. Im Laufe der Affäre um die Entlassung des Hamburger Innensenators Ronald Schill dreht sich dann das Blatt: Nicht mehr er, sondern Hamburgs Erster Bürgermeister findet sich im Zentrum des Medieninteresses wieder. Und zwar als unfreiwillig geouteter Schwuler.

Die Berichterstattung über die Entlassung des nunmehr ehemaligen Hamburger Innensenators Ronald Schill kreiste eher um die sexuelle Orientierung des Hamburger Bürgermeisters. Die Medien haken die vermeintliche Erpressung, aus der sich von Beust mit einem Paukenschlag Mitte August seines rechten Populisten und Schlagzeilen-Machers Schill entledigt, schnell ab. Das Thema in der Hansestadt in den Wochen danach: Wer hat gewusst, dass Ole von Beust schwul ist? Dürfen die Medien über seine angebliche Homosexualität sprechen, auch wenn der erste Bürgermeister dazu selbst nichts sagt? Hat Stefan Aust recht, wenn er bei Spiegel TV am Sonntag-Abend nach der Eklat-Woche behauptet: „Wollen die Wähler nicht wissen, wie derjenige lebt und liebt, den sie wählen?“ Oder ist eher dem Hamburg-Korrespondenten vom ZDF beizupflichten, der sich noch am Eklat-Tag im ZDF Mittagsmagazin weigert, zu Spekulationen über ein angebliches Liebesverhältnis von Beusts zu seinem Justizsenator Roger Kusch Stellung zu nehmen: „Das sollen andere machen!“

AUSGABE 34
SCHWERPUNKT MEDIENMORAL




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Rückblick. 19. August: Hamburgs erster Bürgermeister kommt braun gebrannt aus dem Urlaub, einem mehrwöchigen Segelturn mit Freunden. Auch dabei: Hamburgs Justizsenator und von Beusts Studienfreund aus der Jungen Union, Roger Kusch. Schon am Samstag schreibt das Hamburger Abendblatt: „Den Montag haben seine Mitarbeiter dem Bürgermeister freigehalten, weil es viel zu klären gibt.“ Am Dienstag schreibt  BILD: „Im Hamburger Rathaus droht der ganz große Knall.“ Mittwoch dann der Eklat: Der Hamburger Radiosender NDR2 unterbricht gegen elf Uhr sein

SCHAUPLATZ RATHAUS IN HAMBURG

aktuelles  Musikprogramm: „Der erste Bürgermeister hat seinen Innensenator Ronald Schill entlassen. Das hat er soeben auf einer Pressekonferenz erklärt...“. Wochen später ist der Schill-Skandal immer noch nicht vorbei: Nur hat er eine Wendung genommen, die trotz aller verschleuderten Dreck-Kübel nur für Hamburger Polit-Insider vorhersehbar war: Am 28. August kommt der 86 Jahre alte Vater des ersten Bürgermeisters Achim von Beust zu Wort und verkündet in der Welt am Sonntag: „Homosexualität ist genetisch bedingt“. Das Hamburger Abendblatt (und mit ihm die Hamburger Lokal-Presse) zitiert das Outing des Sohnes durch den Vater in seiner Montagsausgabe und dazu weite Teile des Interviews: Sein Sohn sei nicht mit dem Hamburger Justizsenator Roger Kusch zusammen, sondern habe „einen gutaussehenden Mann aus einer anderen Großstadt in einer hohen Position.“ Freiherr Achim von Beust über Homosexualität: „Es ist doch keine Bösartigkeit. Es ist Natur. Ganz einfach. Genetisch.“

Rückblick: In der NDR2 Meldung steht die Entlassung des Skandal-trächtigen Innensenators im Vordergrund. In Sondersendungen im NDR schicken TV-Redaktionen ihre Teams auf die Strassen, Journalisten fragen: „Wie finden Sie es, das Ronald Schill entlassen wurde?“. Erst in der Begründung für die Entlassung dann der Sex-Hammer: Schill habe von Beust vorgeworfen, seinen Lebenspartner Roger Kusch zum Justizsenator zu machen und damit privates und öffentliches zu verquicken. Wie: von Beust soll schwul sein? Am Abend titelt BILD-Online: „Dreckige Homo-Erpressung im Rathaus“ und setzt in die Unterzeile: „...es geht um schwulen Sex...“. Am nächsten Morgen hat sich in der Print-Ausgabe die Überschrift der Zeitung nicht verändert, der „schwule Sex“ ist aber Harmloserem gewichen. In den zahlreichen Artikeln der Zeitung über den Eklat heißt es: „angebliche Homosexualität“ und „vermeintliches Liebesverhältnis.“ Der Spiegel geht auf diese Umgangsweise mit der Sexualität von Beusts in seiner nächsten Ausgabe ein: „Es sind Tage der Scheinheiligkeit. BILD lässt den Bürgermeister „über Homosexualität“ reden, ganz allgemein, aber nicht über seine.“ Da kommt die Hamburger Morgenpost, zweite Boulevard-Zeitung am Platz, eher den Ansprüchen der Spiegel-Schreiber nach. Dort wird - ohne eine Stellungnahme des ersten Bürgermeisters - über die (damals noch vermeintliche) Homosexualität Ole von Beusts berichtet mit dem Argument: Er wäre auf Sylt und in Hamburg in entsprechenden Etablissements gesehen worden und hätte aus seiner Neigung nie einen Hehl gemacht. Ähnlich der Politik-Korrespondent des „Hamburg Journals“ Jürgen Heuer am Abend des Eklats während seines Berichts aus dem Rathaus: „Das der erste Bürgermeister Ole von Beust schwul ist, haben sowieso alle Journalisten gewusst. Und in der Szene war es längst bekannt.“

Der Damm ist gebrochen. Die Kameras drehen sich ab von Schill und wenden sich dem vermeintlich schwulen ersten Bürgermeister zu.  Spiegel TV dringt ein in die Hamburger Abgründe des Schwulen-Viertels St. Georg und filmt am Jugendstrich in „Haralds Hotel“ einen Mann, der angeblich Zeugen kennt, die den ersten Bürgermeister gesehen haben wollen, wie er sich ein Stundenzimmer nahm. Die Printausgabe wärmt einen Tag später, am 25. August, in seiner Titelgeschichte mit dem Cover „Sex, Lügen und Politik“ unter der Überschrift „Das rosa Rathaus“ noch einmal die mittlerweile banale Erkenntnis auf: „Die Politik ist längst privat, das Private längst Politisch.“ Dann beginnen die Autoren eine lange Aneinanderreihung von Uralt-Beispielen, die ihre These vermeintlich stützen. Da geht es um Bill Clinton und Monica Lewinsky, den Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit, Helmut Kohl und Willy Brandt. Sie stellen wichtige Fragen, halten sich aber mit Antworten zurück. Etwa: Wann fing es an, dass sich Privates und Politisches vermischten? Oder: Wenn Politiker ein Stück ihres Privatlebens der Presse zeigen: Wem gehört dann der Rest? Der Spiegel-Artikel mündet in der rhetorischen Frage: „Müssen Politiker im Jahr 2003 so etwas aushalten?“. Antwort der Autoren: „Ja“. In ihrer Begründung taucht der amerikanische Soziologe Richard Sennet auf, der jeden Menschen als ein „Horrorkabinet“ beschreibt, in dem „hässliche kleine Geheimnisse“ eingeschlossen sind. Die Spiegelautoren ziehen daraus den gleichen Schluss wie ihr Chef Stefan Aust wenige Stunden zuvor bei Spiegel TV: „Müssen die Wähler aber nicht gerade deswegen (wegen den „Horrorkabinetten“ - Anmerkung d. Verfassers) die privaten Geheimnisse der Regierenden kennen - bevor sie diesen Horrorkabinetten die Macht in die Hand geben?“ Kurz: Politiker sollten auf Privatsphäre verzichten, weil durch diese Transparenz nur die Besten, quasi: diejenigen, die wirklich vom Volk gewollt sind,  an die Macht kommen. Denn nur durch diese Transparenz wird ersichtlich, welche wahren Motive der Anwärter auf ein Amt hat. Nur durch diese gläsernen Politiker sind deren Handlungen wirklich glaubwürdig, weil sie sofort auf die Persönlichkeit des Politikers zurückführbar sind. Entsprechen die beabsichtigten Handlungsprogramme des Politikers nicht der durch ihn zur Schau gestellten Transparenz seiner eigenen Person, gilt er als unglaubwürdig und unterliegt seinem politischen Konkurrenten. So etwa scheinen die Spiegel-Autoren zu denken, wenn sie schreiben: „Wenn es um die Homo-Ehe geht, ist dann nicht gerade die Sexualität der Politiker Politik?“

Diese Sehnsucht der Spiegel-Autoren nach Reinheit, Klarheit und einer einmal definierten und unveränderlichen Wahrheit, sprich: Persönlichkeit, ist mit dem Erfolg von TV-Formaten wie Western vergleichbar. In ihnen gibt es klare Grenzen zwischen Gut und Böse und ebenso einprägsame Charaktere, deren Handlungen vorhersehbar und daher abschätzbar sind. Es sind immer die gleichen Typen, die gegen die Indianer kämpfen, die gewinnen und für Recht und Ordnung sorgen.

Aber führt Hamburgs Suche nach seinen fähigsten Politikern wirklich über deren Hosen und dem, was dahinter verborgen liegt? Ist nicht die so zur Schau gestellte Transparenz eine Inszenierung, die - je nach Anliegen - wechselt und sich verschiedenen Situationen anpassen kann? Mit ihr wird nichts gewonnen und nichts verloren: Der Mensch hat nie nur eine einzige Identität, nie nur eine einzige Veranlagung, die er einer fragenden Öffentlichkeit präsentieren kann. Das gilt besonders für Politiker, die in unterschiedlichen Bevölkerungsschichten verschiedene Eindrücke hinterlassen und kräftig an deren Formen mitwirken. Politiker feilen ständig an dem Bild, wie die Bevölkerung sie wahrnimmt. Unter bestimmten Bedingungen stellen sie spezifische Eigenschaften ihrer Person in den Mittelpunkt ihrer Inszenierung.   Damit verkommt die Suche der Journalisten nach einer endgültigen Transparenz zu einer Endlos-Inszenierung, bei der es neben den schon bekannten Formen jetzt auch um Sex geht. 

Ronald Schill taucht nach der Affäre erst einmal unter. Nur mit wenigen Fraktionskollegen spricht er in den Tagen vor der Wahl seines Nachfolgers. Dirk Nockemann soll neuer Innensenator von Hamburg werden. Die Rückkehr zum politischen Alltag deutet sich in der Tagespresse an. Ungehindert des Abgrunds, in den die Hamburger politische Kultur in diesen Wochen schlittert, scheint dieser Weg möglich. Die Bild berichtet drei Wochen nach dem Eklat über „Oles Küchenkabinett“ und ist exklusiv dabei, als das gesamte Kabinett in einem Hamburger Spitzenrestaurant in der Küche selbst anpackt und kocht. „Wir wollen die letzten Krisen-Wochen vergessen und uns endlich mal wieder nett unterhalten.“ Der SPD geht es derweilen im Rathaus um Neuwahlen. Und am Tag der Bestätigung Dirk Nockemanns durch die Bürgerschaft dreht sich alles noch einmal um Ronald Schill: Wird er die „Bombe“ platzen lassen, die er in der Bild einige Tage zuvor aufgebläht hatte? Wird er seinen Konkurrenten Nockemann mitwählen, der ihn am Tag vor der Abstimmung beschuldigt, „Beziehungen zu minderjährigen Frauen“ zu unterhalten - so berichtet jedenfalls ein Schill-Abgeordneter im ZDF Magazin Frontal 21. Die Schill-Spitzen dementieren kräftig und in der Tat: an diesen Vorwürfen scheint nichts dran zu sein. Sie vergehen so schnell, wie sie gekommen sind. Ebenso die angedrohte „Bombe“. Sie entpuppt sich als vorerst letzte Drohgebärde vom gestürzten „Richter Gnadenlos“. Er soll nach Angaben der Bild ein „lukratives Angebot“ aus der Wirtschaft bekommen haben. Möglich, dass er sich aus Hamburg ganz zurück zieht.

Die „Homo-Erpressung“ (Bild) hat sich überlebt und ihren Wert verloren. Ole von Beust kann dem Ganzen gelassen entgegensehen. Es sei denn: An dem Vorwurf der Vetternwirtschaft im Hamburger Rathaus ist doch etwas dran. Dann hätte von Beust sogar vom Wirbel um seine Sexualität profitiert: Weil von Beust seit der Sex-Erpressung in Hamburg „en vogue“ ist und beliebter als je zuvor, traut sich keine lokale Zeitung, der Schill-Anschuldigung nachzugehen.



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