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Kunst und Religion

Beobachtungen eines angespannten Verhältnisses zwischen
kunstästhetischer und religionsästhetischer Wahrnehmung vor Ort
 
Text: Erika Edusei und Fritz U. Krause     Illustration: Kirchenkreis Bielefeld  

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Teil 1    Zu Teil 2 



1. Abendmahlsinstallation statt Abendmahlstisch

Wer die mehrjährige Bielefelder Kunst-und-Kirche–Szene kennt, wird sich sicherlich an die Abendmahlsinstallation des Stuttgarter Professors Wolfgang Knoll (Bild) erinnern, die im Sommer 2000 in der Süsterkirche der ev.-reform. Gemeinde Bielefeld ausgestellt war. Pfarrer Uwe Moggert-Seils (Bielefeld) hatte sie anlässlich der EXPO 2000 nach Bielefeld geholt.

Sie sollte keine Provokation sein!

Die Abendmahlsinstallation brachte es aber fertig, die ev.-reform. Gemeinde in zwei Lager zu spalten: in wenige Begeisterte und viele Ablehnende. Nie gab es so viele Meinungsäußerungen ans Presbyterium wie zu diesem Kunstwerk – die meisten wünschten es sich schnellstens wieder vom Halse und sehnten die Klarheit des Kirchenraumes zurück: kein Bild, kein Kreuz, kein Altar – das Bibelwort allein [11].

Als nach den Sommerferien die Installation immer noch nicht abgebaut war, waren einige Gottesdienstbesucher um ihre Fassung gebracht: Das war nicht mehr ihre Kirche – mit diesem hässlichen Ding anstelle des gewohnten, schmuckarmen Abendmahlstisches [04].

Doch es gab eben auch die, welche in der Ambiguität des Kunstwerks den zentralen Gedanken des Christums erkannten: Tod und Auferstehung, die Doppeltgerichtetheit des christlichen Abendmahls [05], parallel (zum Beispiel) der Doppelsinnigkeit der Taufe: Ertränken und Vergebung/Neuanfang. Entsprechend verstörte der beschädigte Abendmahltisch, aber und umso mehr tröstete die Feier des Abendmahls. Die Beziehung des teilweise brüchigen und zertrümmerten Menschentisches zu dem Abendmahl Christi konnte ihnen zum Anzeichen der göttlichen Gnadentat werden: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende (Mt 28,20).



2. Symbol und Konvention

Es wurde angesichts dieser Situation nötig, die Aufstellung der Abendsmahlsinstallation in das Licht einer Argumentation zu stellen. Begründungen machen schließlich Kultur, auch christliche Kultur: Sie ersetzen menschengleichgültige Kausalität durch menschengemäße Konvention. Konvention entspricht demokratischer Überzeugung: Sie schafft Sicherheit auf Zeit, und sie ist überwindbar wie alle begrifflichen „Mauern“ . Es ist Menschenart, auf Konventionen zu setzen, um sie sogleich wieder für unzureichend zu halten und sie abzuwickeln. „Wir alle sind Agnostiker“ [02].

Das Theoriespiel:

Der kirchliche Abendmahlstisch in der reformierten Kirche ist ein Gebrauchsgegenstand, und er wird zugleich genutzt als Zeichen. Der Abendmahlstisch in der Kirche symbolisiert den Tisch, an dem Jesus mit den Jüngern gesessen hat  – „am Tage als er verraten ward“ (1.Kor 11,23b-26). Nur das soll der Abendmahlstisch anweisen: die Einladung zur Abendmahlsfeier.

Symbolisieren heißt: Der reale Tisch, der jedem Gottesdienstbesucher sichtbar ist, wird mit der Tatsache verknüpft, das der historische Jesus an ihm gesessen hat. Das ist eine Verknüpfung von Unvereinbarem, aber genau das konstituiert ein Symbol. Die Verknüpfung von Unvereinbarem ist Ergebnis einer Konvention und nur so ist sie verständlich und akzeptiert. Jede Änderung würde die Verständlichkeit gefährden [06]. Ein solcher Eingriff ins Symbol war aber die Abendmahlsinstallation: Der Abendmahlstisch des Künstlers Knoll hat das entfernte Aussehen eines Tapeziertisches und er ist zudem stark beschädigt. Die zwölf Jünger sind in Abbildungen und Stelen angedeutet, Jesus wird von einer „Tür“ verkörpert  [08,09].

Für die Gemeindemitglieder schien bei der Abendmahlsfeier gar kein Platz mehr. Sie stellten sich die Frage: Soll man den Abendmahlstisch angucken oder soll man sich um ihn versammeln? Ein Dilemma. Selbst die Aufforderung des Pfarrers konnte das Zögern nicht überwinden.



3. Ambiguität als Kunstmerkmal

Ambiguität tritt ein, wenn die konventionalisierte Beziehung zwischen Zeichen und Gemeintem aufgegeben wird. Der Gottesdienstbesucher fragt sich: Was beabsichtigt die intellektualisierende Ambiguierung der Situation, wenn doch der Zweck, nämlich die geistliche Abendmahlshandlung, weiterhin fraglos bleibt? Die gängige pragmatische Klärungsmethode besteht in solchen Fällen darin, den Versuch zu machen, die Situation so zu interpretieren, dass man ihre praktischen Konsequenzen untersucht [13]. Der pragmatische Schluss bestätigte den meisten Besuchern die Überflüssigkeit der Kunstinstallation. Die Konsequenz dieses Schlusses war die Ablehnung der Installation überhaupt.

Eine Abendmahlsfeier hat mit Kunst nichts zu tun. Der kirchliche Abendmahlstisch ist ein konventionalisiertes, normbestimmtes Symbol, eingegliedert in ein religiöses Zeichensystem, das etwas Bekanntes anweist. Die „erhabene“ Wirkung dieses Symbols ist rezeptionsästhetisch eindeutig. Ambiguität aber im Gebrauch von Zeichen wird um der ästhetischen Wirkungsproduktion willen artifiziell erzeugt und soll oft Kunst von Nicht-Kunst unterscheiden [14]! Der Künstler spielt mit Beziehungen, die sich aus den unterschiedlichen Gebrauchs-Restriktionen von Zeichen-Norm und Zeichen-System ergeben. Das lenkt bei der Abendmahlsfeier ab.



4. Norm und System, Arbitrarität

Da der Abendmahlstisch ein Symbol ist, ist er der Struktur nach Sprachsymbolen vergleichbar, deshalb darf der Blick zur weiteren Argumentation auf „Sprachnorm“ und „Sprachsystem“ gelenkt werden. Ein Sprachsystem lässt weit mehr Möglichkeiten zu, als eine Sprachnorm beansprucht. Diesen Umstand nutzt der Künstler. Die Norm regelt in der Sprache die Gebrauchskonvention der Zusammensetzung von Morphem, Syntagma und Satz. Das System stellt das Inventar der Elemente und die Regeln der Syntagmatik im Sinne mereologisch-errechenbarer Möglichkeiten. Dieses System zum Zwecke völlig zufälliger Synthesis zu verlassen und aufzugeben brächte nur Unsinn hervor.

Muss in der Alltagswelt ein Zeichen, ob nun eigentlich im Gebrauch oder idiomatisiert, der Konvention gehorchen und in dieser Hinsicht möglichst eindeutig sein, so spielen in der Kunstwelt alle Zeichen mit loser Konvention, die sich bis zur Anzeichenhaftigkeit relativiert. In der Sprachkunst wird die rigide, sprachliche Gebrauchsbedingungsnorm aufgehoben, und es gelten fortan alle, auch die von der Norm nicht genutzten Gebrauchsmöglichkeiten, die das System zulässt. Allerdings ist die so erzeugte Vagheit von Zeichen nur einschätzbar, wenn der Sprecher/Hörer die Kompetenz für Eindeutigkeit hat. Das Verständnis ist auf die oppositionale Gleichzeitigkeit beider Zustände angewiesen. Wer das System nicht kennt, erkennt auch keine nicht-genutzten Möglichkeiten. Kunst ist kreativer Umgang mit den Möglichkeiten des Systems.

Systementbundener Umgang brächte – wie gesagt – Irrsinn hervor.

Die Besonderheit bei der Konventionalisierung von Symbolen ist die Arbitrarität, die zwischen Ausdruck und Gebrauchsbedingung (Inhalt) sowie dem nicht-sprachlichen Gemeinten besteht. Arbitrarität (Unvereinbarkeit von Fremdem und Nicht-Zusammengehörigem) und ihre Nutzung ist systemische Bedingung von Symbolbildung durch Konvention. So haben das Wort „Tisch“ und der Gegenstand „Tisch“ nichts miteinander zu tun, nur dass sie willkürlich aufeinander bezogen sind. So hat auch das Wort „Abendmahl“ mit der Absicht Jesu nichts zu tun, nur dass sie zufälliger Weise aufeinander bezogen sind.



5. Wahrheit vs. Wirkung: Wirklichkeit

Sprachliche „Wahrheit“ versteht sich in der Sprachkunst allein als sprachliche „Wirkung“; was wirkt, erscheint „wirklich“. Das Kunstwerk referiert allein in diesem Sinne auf Wirklichkeit“, es referiert nicht auf einen objektivierbaren Sinnverhalt [14]. Die „Wahrheit“ der Kunst ist allein ihre Wirkung, völlig getrennt von Richtigkeit und Falschheit im wissenschaftlichen Sinne. Es gibt immer wieder die Aufforderung, in der Kunst Wahrhaftigkeit zu erleben, aber das ist ein „Munkeln und Dunkeln“. Wer von der Kunst „Wahrheitsoffenbarung“ erwartet, sieht sich früher oder später belogen.

Kunst hat nachweisentbundene und ausschließlich subjektive Wirkung. Kunst ist ein Placebo, eine wirkungsmächtige Einbildung, und somit wider Erwarten dem verwandt, was wir im Alltag „Wirklichkeit“ nennen. Die Wirklichkeit des Alltags wird nämlich allein durch das Gelingen und Nicht-Gelingen einer Situation zu einer Vorstellung. Kunst bedarf der Interpretation ebenso wie die Situation des Alltags. Beide „Wirklichkeiten“ sind Sinn-Setzungen, die Differenz liegt in der Konventionsgenauigkeit  und im besonderen in den Konsequenzen. Die Kunst sollte nicht Konsequenzen haben, die Alltagsentscheidungen beeinflussen. Die Alltagssituation fordert Konsequenzen, die sich ausschließlich am Gelingen der Situation orientieren, unabhängig von jeglicher „Wahrheits-“annahme und jeglichem „Wahrheits"-nachweis.

Der Wirklichkeits-Begriff, der sich von „Wirkung“ ableitet und nicht von  „Wahrheit“ ist für Kunst und Alltagssituation somit vergleichbar zutreffend. Kunst-Sinn und Alltags-Sinn binden sich an eine pragmatische Zugangseinstellung, jener ist am subjektiven Empfinden orientiert, dieser am Gelingen, am situativen Erfolg. Die Gebrauchsgenauigkeit wird – wissenschaftlich gesehen – meistenteils sogar völlig „unzureichend“ sein; es genügt, wenn sie der Situationsanforderung oder Betroffenheitsabsicht entspricht.

Die Wissenschaften sind der Feind dieser Placebo-„Wirklichkeiten“. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben es schwer, ins Alltagsleben integriert zu werden; in der Kunst verlieren sie jede Funktion. Die Wissenschaften arbeiten mit anderen Genauigkeitsvorstellungen als die Alltags- und die Kunstwahrnehmung. Doch auch sie erzeugen, mit agnostischer Skepsis betrachtet, auch wieder nur „Wirklichkeiten“ mit einer eigenen Konsequenzebene [6].



6. Der Abendmahlstisch als Anzeichen

In der Sprachkunst verlieren die Zeichen ihre Eindeutigkeit oft bis zur Unkenntlichkeit. Sprachwissenschaftlich spricht man dann von einem Verlust an Kongruenz der Bedeutungsmerkmale (Seme). Man denke beispielsweise an Verse Gottfried Benns. Allein eine raffinierte Wirkung steht bei diesem Verfahren im Vordergrund. Zeichen werden in solchen Momenten anzeichenhaft gebraucht: Ein „Abendmahlstisch“ mit religiöser Funktion ist ein eindeutiges Zeichen, das problemlos verstanden wird. Bei einer „Abendmahlstisch-Installation“ aber ist die Anweisung ins Anzeichenhafte verschoben. Man kann sie nicht mehr identifizieren, man muß sie interpretieren. Ein Kunstwerk ist stets anzeichenhaft und bleibt als Artefakt prinzipiell mehrdeutig bis ein Interpret es zeichenhaft gemacht hat. Anzeichen werden dabei je nach psychischer Intentionalität des Rezipienten in Zeichen zurückverwandelt. Eine Interpretation ist eine Zeichen-Sinnsetzung für den jeweiligen Augenblick, gebunden an zufällig bestehende rezipientelle Voraussetzungen und Kontexte. Ein Artefakt provoziert Interpretationen und entzieht sich ihnen gleichzeitig [9].



7. Interpretationskompetenz

Interpretationskompetenz ist nicht die Fähigkeit, ein als fertig angesehenes Kunstwerk in seiner ureigenen, essentiellen Bedeutung zu erfassen, sondern sie besteht darin, ein bedeutungsoffenes Artefakt, im Rahmen des gebotenen und gestalteten Kunstmaterials verbleibend, auf einen hier und jetzt wirkungsoptimalen „Sinn“ festzulegen. Eine Interpretation darf sich nur mit einer optimalen Wirkung zufrieden geben, sonst tritt Langeweile ein. Langeweile ist das Gegenteil von Kunst. Wer ein Artefakt nicht auf optimale Wirkung hin für sich zum Kunstwerk zu Ende führen kann, sollte daran vorbeigehen oder darüber gesellschaftsgeeignete Konversation betreiben. Lichtenberg fasst die Situation drastisch zusammen: Wenn ein Esel in ein Kunstwerk hineinschaut, könne nur Eselhaftes herausschauen.

Die „offene“ Abendmahlsinstallation muss vom Gottesdienstbesucher somit wie zuvor der gewohnte Abendmahlstisch als eindeutige Aufforderung zur Abendmahlsfeier festgelegt werden, wobei eine hinzutretende optimale Wirkungsempfindung die Motivation verstärkt. Diese Verstärkung sollte nun nicht durch eine weltliche „Schmonzette“ (zum Beispiel eine Verdi-Arie bei einer Beerdigung, die ausschließlich innerhalb einer Oper ihren Wert hat), wie man es oft bei Beerdigungen erlebt, erfolgen.  Bei der Abendmahlsinstallation könnte es die „Brüchigkeit“ des Heils-Tisches sein, die das christliche Verständnis von Tod und Auferstehung betont.

Bei einer solchen Symbolfestlegung würde die Anzeichenhaftigkeit auf die religiöse Intentionalität, Gottes Wort, ausgerichtet. Gelingt diese Symbolsetzung nicht, wird die Installation als fremdartig, autonom und ablenkend abgestoßen. Der Gottesdienst könnte daran scheitern. Die aufs Erleben ausgerichtete Interpretationskompetenz eines Rezipienten muss darüber entscheiden.



8. Laizismus


Die Kunst-Installation des Abendmahltisches von Knoll hat für die meisten reformierten Gemeindemitglieder die Wahrnehmungserwartung eines Kirchenraumes durchbrochen und eine förderliche Interpretationskompetenz konnte nicht aufgebracht werden.

Sehen wir als entscheidenden Grund dafür die übliche skepsisferne Eingliederung aller Gottesdienstbesucher in einen Gottesdienstablauf: Die Funktion einer reformierten Gottesdienststätte ist die Reduktion aller Akzidentien als Zufälligkeiten, bis sich – so die Hoffnung – der Zugang zum Gotteswort einstellt. So gesehen erscheint eine Kunstinstallation, die erst festgelegt werden muß, gegenläufig und Irritation ist die Folge.

Die Gegenwart des Kunstwerkes in der reformierten Kirche fordert, erzwingt geradezu die Bewältigung eines bekannten Dilemmas. Nach heutiger zivilgesellschaftlicher Vorstellung gehören Kunst und Glaube so wenig zusammen wie Kultur (Freiheit) und Religion (Lehre) überhaupt. Die bekannte Laizismus-Forderung bezieht sich im demokratischen Zusammenleben westlicher Art nicht nur auf die Trennung zwischen Kirche und Staat.

Kunstwerke agieren mit weltlichen Erlebensbedürfnissen, sie wollen kunstästhetisch und nicht glaubensorientiert wahrgenommen sein. Die Ästhetisierung von Glaubensinhalten ist der Weg zum Götzentum und zu Fundamentalismen, wie wir es bei den Bewegungen von Opus Dei, Islamismus und Scientology beobachten können.

Laizismus ist die notwendige Folge des „aufgeklärten Glaubens“, hinter den der Gläubige bei aller Glaubenserfahrung nicht mehr zurück kann. Glaubenszweifel und Glaubensgewissheit bestimmen in ihrer Gemeinsamkeit die Glaubwürdigkeit christlicher Existenz, und diese Glaubwürdigkeit kann sich in einem zweiten Schritt auf die weltliche Lebensform übertragen. Christlicher Glaube kann Entwürfe einer christlichen Kultur in der Welt nach sich ziehen. Elazar Benyoetz, der israelitische Rabbi und Aphoristiker, kondensiert diese Auffassung in den Worten: Wer Gott verlässt, verlässt sich auf Gott.



9. Die ästhetische Wahrnehmung

Auf diesem Hintergrund führte die „Abendmahlsinstallation“ in der ev.-reformierten  Gemeinde in Bielefeld unvermeidbar zu einer Diskussion über die Feier des Abendmahls. Besondere Aufmerksamkeit bekam zunehmend die Frage, ob mit der Forderung nach Interpretationskompetenz die ästhetische und gottesdienstliche Wahrnehmung nun doch kompatibel sein sollten. Über den Zweck einer ästhetischen Einstellung und Wahrnehmung im Gottesdienst wurde permanent gestritten.

Das Schöne/das Hässliche, weiterhin das Fremde und das Erhabene sind ästhetische Werte. Schön ist mir, was mir entspricht; hässlich ist mir, was mir nicht entspricht. Diese Empfindung wendet sich mit der Erfahrung des Fremden [3] und Erhabenen in Richtung eines Erschreckens, wobei existentielle Bedrohung als solche bei der ästhetischen Erfahrung ausgeschaltet bleibt. Das Fremde-Schöne ist ungewohnt, entspricht mir nicht, könnte mir aber entsprechen; das Fremde-Hässliche entspricht mir nicht und stößt mich ab; das Erhabene-Schöne ist in seiner übermenschlichen, außerordentlichen Fremdheit und unendlichen Ferne erschreckend und „göttlich“; das Erhabene-Hässliche ist übermenschlich, teuflisch und erschreckt zutiefst. Sowohl bei der kunstästhetischen als auch bei der religionsästhetischen Wahrnehmung sind diese Werte gleich [9].

So das Résumé moderner Geschmackseinstellungen. Diese ästhetische Wertung ist auf den hier gemeinten Abendmahlstisch zu beziehen.



10. Noch einmal: die gottesdienstliche Wahrnehmung


Eine kunstästhetische und religionsästhetische Wahrnehmung haben bei aller strikten Trennung doch eine Wertegemeinsamkeit, die funktional genutzt wird.

Für den Gottesdienst werden kunstästhetische Gegenstände gewählt, da Schönheit, Fremdheit und Erhabenheit  auch bei der Erfahrung des Gotteswortes auftreten. Die ästhetische Erfahrung kann somit eine einleitende Funktion haben: Mit der ästhetischen Erfahrung werden die existentiell personale Beziehung und die unmittelbare existentielle Bedrohung aus dem Gotteswort genommen. Die Ästhetik bewahrt die menschentypische Schwäche vor der Überwältigung durch die Erhabenheit des Gotteswortes und bereitet zugleich die Zuwendung vor. Friedrich Schiller sieht in der Aufhebung von Unmittelbarkeit, im besonderen in der Ausschaltung existentieller Bedrohung eine notwendige Voraussetzung kultureller „Veredlung“. Diese Vorstellung kann man vielleicht auf die „Glaubensveredlung“ übertragen. Der Umgang mit Kunstwerken verfeinert die kognitiven Fähigkeiten im allgemeinen und bereitet damit die Gottgerichtetheit als „intentionalen Zustand“ vor [10].


Der intentionale Zustand der ästhetischen Wahrnehmung, diese ästhetische Grundgestimmtheit bewirkt
wie oben skizziert eine Art phänomenologischer Reduktion und bereitet den Grund für die religionsästhetische Erfahrung des Gotteswortes. Ist der intentionale Zustand der Wahrnehmung des Gotteswortes erreicht, muß sich die ästhetische Komponente auflösen. Die reformierte Auffassung ist:

Kunstwerke haben eine Werteparallelität, gehören aber nicht zur Grundausstattung der Kirche. Kunst vermittelt das Verhältnis zwischen Mensch und Welt; das Gotteswort vermittelt zwischen Mensch und Gott [12].



11. Die gottesdienstliche Leistung der Installation


Es war – wie gesagt – vielen Kirchenbesuchern nicht möglich, das Kunstwerk „Abendmahlstisch“, das mit dem schlichten Stil des gewohnten Abendmahlstisches der Süsterkirche brach, als fremd-schön zu empfinden. Das wäre eine Wertung für einen sich öffnenden Zugang zu Gottes Wort gewesen. Die ästhetischen Wertung lief wegen der Irritiertheit zumeist auf das Werturteil: fremd-hässlich zu. Damit war die oben skizzierte Vorbereitung auf die gottesdienstliche Funktion gescheitert und damit hatte sich [leider] auch die Ablehnung des Abendmahl-Kunstwerks für gottesdienstliche Abendmahlszwecke durchgesetzt.



12. Abendmahlstisch zerstört, Mensch verstört


Die Abendmahls-Installation besteht aus einem Tisch, der seitlich starker Zerstörung ausgesetzt ist.

Der Blick auf die Feier des Sakramentes an diesem verstörenden Tisch drängte (interpretierend) offenbar auch den Blick auf das eigene Selbst auf. Wer bin ich, der da an diesem heruntergekommenen Tisch steht und Abendmahl feiert, und: Wer ist dieser Gott, der sich das gefallen lassen muß? Die Gleichsetzung bürgerlicher Ordentlichkeit und  Seriosität mit göttlichem „Geschmack“ ist eine nicht auszuschaltende Erwartungshaltung. Sie bleibt mit der Abendmahlsinstallation uneingelöst.




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Die Autoren




Pfarrerin Erika Edusei

S
tudium der Theaterwissenschaft, Germanistik, Philosophie und Theologie in Köln, Münster, Bielefeld-Bethel. Pfarrerin in der ev.-reform. Gemeinde in Bielefeld seit 1997.





Dr. Fritz U. Krause

Geboren 1938 in Berlin. Studium der Germanistik, Philosophie und Sport in Bonn. 1976 Promotion. 1972-1989 und 2002 Lehrauftrag an der Universität Münster, Fachbereich Germanistik.  1990-2003 Gym-nasiallehrer (Studiendirektor).  1994-1998 Vize-Präsident, 1998-2001 Präsident der Christian-Dietrich-Grabbe Gesellschaft e. V.. Detmold.
Leiter des Privattheaters an der Süsterkirche (THEATER-tankstelle Bielefeld). Regisseur seit 1997.

Literatur


[01] Karl Barth: Ethik II (1928/29, 1978) DBraun (Hg). Zürich (Theologischer Verlag).

[02] Jean Baudrillard (2000) Die Intelligenz des Bösen (Übs ChWinterhalter) Wien (Passagen forum). Darin das Kapitel: Wir alle sind Agnostiker.

[03] Herbert Grabes (2004) Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne. Tübingen Basel (UTB 2611). Darin das Kapitel: Die Ästhetik des Fremden.

[04] Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen (1987, 1997) Werner Busch (Hrsg.) München Zürich (Piper). Darin das Kapitel: Die religiöse Funktion der Kunst.

[05] Ferdinand Hahn (2003) Theologie des Neuentestaments. Tübingen (Mohr Siebeck). Darin: Zwei Auffassungen vom Herrenmahl (= Zeitzeichen (2205)2).

[06] Hans Dieter Huber (1989) System und Wirkung. München (Fink). Darin das Kapitel: Der implizite Betrachter.

[07] Doris Humphrey (3A1999) Die Kunst Tänze zu machen. Wilhelmshaven (Noetzel).

[08] Konrad Paul Liessmann (2004) Reiz und Rührung. Über ästhetische Empfindungen. Wien (Fakultas). Darin das Kapitel: Vermischte Empfindungen.

[09] Christoph Menke (1991) Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt/M (Suhrkamp).

[10] Pastoralästhetik. Die Kunst der Wahrnehmung und Gestaltung in Kirche und Glaube (2002) Walter Fürst (Hrsg.) Freiburg Basel Wien (Herder). Darin das Stichwort: Glaubensästhetik.

[11] Von den Bildern befreit zum Leben. Wahrheit und Weisheit des Bilderverbots (2002) Jörg Schmidt (Hrsg.) Wuppertal (Foedus, = reformierte akzente 6).

[12] Michael Weinrich (2002) Die Wahrheit des Bilderverbots. Historische und theologische Aspekte. – IN: [10:17-42].

[13] William James: Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden (2A1994) Koehler (Hrsg.) Hamburg (Meiner).

[14] Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion (2001) Bernd Kleimann, Reinold Schmücker (Hrsg.). Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft).