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Aufmerksamkeit ist nicht alles

Gedanken zum Agenda-Setting politischer Parteien
zwischen Medienmacht und öffentlicher Meinung
Text: Christian Junge     Bild: Marcelo Barboza
 

 

1960 legten die Politikwissenschaftler Angus Campbell, Philipp Converse, Warren Miller und Donald Stokes ein einflussreiches Modell zur Analyse von Wahlentscheidungen vor. Neben langfristigen Parteienbindungen – die als Parteienidentifikation bezeichnet wurden – seien politische Persönlichkeiten und Themen wahlentscheidend. Heute kommt wohl insbesondere letzten beiden Faktoren des sog. „Ann-Arbor-Modells“ große Bedeutung zu. Langfristige Loyalitäten und Parteibindungen sind im Zuge gesellschaftlicher Transformationsprozesse der Nachkriegszeit nicht vollends verschwunden, aber wesentlich brüchiger geworden. Auch die deutschen Parteien – allen voran die SPD, die vielen immer noch als „Partei der kleinen Leute“ gilt – waren ursprünglich Broker der Interessen fest umrissener Milieus und identifizierbarer gesellschaftlicher Gruppen. Heute können die großen Parteien fast nicht anders, als „catch-all-parties“ (Otto Kirchheimer) zu sein, bei denen die Maximierung von Wählerstimmen aus allen gesellschaftlichen Schichten oben auf dem Programm steht.

Wenn das unbekannte Wesen Wähler dann die Wahlkabine betritt, wurden im Vorfeld eher selten Programme miteinander verglichen. Auch hat der Wähler eher selten eine dezidierte Leistungsbilanzierung der Regierungsparteien in den Politikfeldern Haushalt, Finanzen und innere Sicherheit vorgenommen. Das hat nicht unbedingt mit Desinteresse und der oft zitierten Politikverdrossenheit zu tun, eher aber mit jener Komplexität, die politische Praxis heute grundsätzlich ausmacht. Nicht nur die berüchtigte Gesundheitsreform wäre ein Beispiel für jene Politikfelder, in denen sich selbst ausgewiesene Experten nur mit Mühe einen Überblick verschaffen können. Der „Durchschnittsbürger“ aber, dessen Alltag und Freizeit sich oft im politikfernen Bereich abspielt, zieht bei der Bewertung von Parteien und deren Kandidaten verständlicherweise jene Informationen heran, die ihm kurzfristig verfügbar sind. So zumindest sehen es die Wahlforscher. Es handelt es sich dabei häufig um einzelne politische Themen, denen der Wähler persönlich zum Zeitpunkt der Wahl eine hohe Bedeutung beimisst. Wissenschaftler sprechen von einer Art inneren Rangfolge wichtiger Themen und bezeichnen diese als Agenda. Im Licht dieser persönlichen Agenda relevanter und weniger relevanter Themen werden Kandidaten und Parteien, die zur Wahl stehen, bewertet. Dies hat wichtige Implikationen. Beschäftigt viele Menschen – etwa nach einem Terroranschlag – das Thema der inneren Sicherheit, werden sie Parteien und ihre Repräsentanten zumindest auch danach bewerten, ob sie sich im Themenfeld innere Sicherheit als kompetent erweisen.

Weil diese Themenprioritäten also heute bei Wahlentscheidungen ganz offenbar eine wichtige Rolle spielen, setzt sich die Wissenschaft schon seit längerer Zeit mit der Frage auseinander, wie diese Themenrangfolge, oder „Publikumsagenda“ eigentlich zustande kommt. Obwohl politische Parteien sicher zu jenen Gruppen gehören, die ein unmittelbares Interesse an der Formung der öffentlichen Meinung haben, standen und stehen nicht sie, sondern die Medien  im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.

1972 legten die Kommunikationswissenschaftler McCombs und Shaw eine wegweisende Arbeit vor. Ihre „Chapel Hill“-Studie zeigte sehr große Übereinstimmungen zwischen der Agenda der Medien und der Agenda der Wähler. Viele Nachfolgerstudien kamen zu ähnlichen Ergebnissen: offenbar bestimmen die Medien tatsächlich bis zu einem bestimmten Grad, was Menschen wichtig ist, welche Themen in der Bevölkerung große Bedeutung haben.

„Alles was wir von der Welt wissen, wissen wir aus den Medien“ lautet ein oft bemühtes Zitat des Soziologen Niklas Luhmann. In der Tat spielen die Medien in der Welt- und also auch in der Politikwahrnehmung eine entscheidende Rolle. Sie bauen an dem mit, was wir als politische Wirklichkeit empfinden. Nur wenige Menschen haben aus erster Hand einen Einblick in den „Politikbetrieb“, und auch diese Einsichten beschränken sich in der Regel auf lokal-regionale Bereiche und eingegrenzte Fachgebiete. Begriffe wie Mediendemokratie, die längst selbstverständlich zur Beschreibung unserer Gegenwart benutzt werden, tragen dem Umstand Rechnung, dass die Medien längst vom Chronisten aufgestiegen sind zu einer eigenen Größe im Spiel der Politik, auf die sich andere Akteure – unter ihnen vor allem die Parteien – einstellen müssen.

Das betrifft auch das Agenda-Setting durch die Parteien. Einerseits besteht für sie ein großer Anreiz, gerade im Vorfeld von Wahlen die Komplexität und Widersprüchlichkeit der politischen Wirklichkeit zu reduzieren, ein geeignetes Thema auszuwählen und in der Öffentlichkeit zu positionieren. Das Ziel ist es dabei, ein Thema zu finden, über das Menschen sprechen, dass die eigene Partei in günstigem Licht erscheinen lässt und das Menschen im Idealfall kurzfristig dazu motiviert, dass entsprechende Kreuz zu setzen. Anderseits führt dieser Weg zur Agenda der Menschen offenbar nur über die Agenda der Medien.

Grundsätzlich ist die Politik, so schreibt der Politikwissenschaftler Ulrich Sarcinelli, „auf die Publizität durch die allgemein zugänglichen Massenmedien angewiesen“. Gewiss verfügen die Parteien auch über eigene Medien. Trotz sinkender Auflagen werden z. B. im Monat rund 500.000 Exemplare des „Vorwärts“ verteilt. Was die Verbreitung betrifft, rangiert das SPD-Parteiorgan damit noch vor der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Dennoch beschränkt sich der Leserkreis auf die Basis der eigenen Partei. Ansonsten fehlt es den Parteien nach Expertenmeinung oft an den Mitteln, über die eigene Klientel hinaus eine direkte Wählerkommunikation aufzubauen und auf Dauer zu stellen, die sich von den „störenden Einflüssen“ der Medien unabhängig macht.

Da Parteien sich ihrer Umwelt anpassen müssen, um dauerhaft zu überleben, ist auch die Bedeutungszunahme der Massenmedien an den Parteiorganisationen nicht spurlos vorüber gegangen. Sie haben darauf mit einer internen Professionalisierung reagiert, die neben einer grundsätzlichen Aufwertung der Parteiführung (zulasten der Basis) auch eine Professionalisierung der Kommunikation nach innen und nach außen betrifft. Press Relations, Public Relations, Public Affairs – all dies sind für Parteien längst keine Fremdwörter mehr. Vor allem zum Fernsehen und zu den Printmedien, zum „publizistischen System“ als Gatekeeper der öffentlichen Meinung, haben Parteien längst „marktförmige Beziehungen“ etabliert, wie die Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann und Stefan Marschall anmerken. „In den Parteiorganisationen sind Stellen eingerichtet und über die Jahre hinweg ausgebaut worden, deren primäre Aufgabe darin besteht, Journalisten zu betreuen. Öffentlichkeitsarbeit als modernes Kommunikationsmanagement gehört zum Repertoire eines jeden politischen Akteurs, ob Individuum oder Organisation“.  

Wirft man einen Blick in die einschlägige Literatur, so findet sich in Büchern über politische Öffentlichkeitsarbeit, Wahlkampf und Kampagnenplanung oftmals auch ein Kapitel zum Bereich „Themenmanagement“. Diese Kommunikationsstrategie zielt im Wesentlichen darauf ab, die Medienagenda zu beeinflussen und über diesen „Umweg“ die Vorstellungen des Elektorats zu prägen. Der Politikwissenschaftler Frank Brettschneider unterscheidet dabei drei Basistechniken. Beim aktiven Setzen der politischen Tagesordnung – Agenda-Setting – werde versucht, jene Themen in die Medienberichterstattung zu lancieren oder dort zu halten, bei denen entweder die eigene Partei bzw. der eigene Kandidat von der Bevölkerung als kompetent angesehen werden oder bei denen die Bevölkerung bei der gegnerischen Partei und dem gegnerischen Kandidaten Defizite wahrnimmt. Beim Agenda-Cutting gelte es, jene Themen aus der Medienberichterstattung fernzuhalten oder sie von dort verschwinden zu lassen, bei denen entweder die eigene Partei bzw. der eigene Kandidat von der Bevölkerung nicht als kompetent angesehen werden oder die Bevölkerung der gegnerischen Partei und dem gegnerischen Kandidaten größere Problemlösungsfähigkeit zuschreibt. Drittens beschreibt Brettschneider auch noch Agenda-Surfing. Wenn man das in der Medienberichterstattung existierende Themen-Set nicht beeinflussen könne – Stichwörter: Elbe-Flut oder Irakkrieg –, dann werde laut Brettschneider versucht, dieses Themen-Set zum eigenen Vorteil zu nutzen.

Aber was ist überhaupt ein „gutes“ Issue, oder ein „Gewinnerthema“, wie der Politikberater Marco Althaus formuliert? Spezialisten aus dem Bereich politischer Kommunikation haben hier allerhand Kriterien formuliert. Ganz gewiss muss sich ein potenziell geeignetes Thema einerseits an den berühmt-berüchtigten Nachrichtenfaktoren orientieren. Ist das Thema aktuell und relevant, lässt es sich gut personalisieren, können an ihm Konflikte dargestellt werden, so hat es eher eine Chance, bei Nachrichtenagenturen, TV-Stationen und Radiosendern Gehör zu finden. Auf der anderen Seite gilt es, ein Thema zu finden, an dem sich die durch Bürger zugewiesenen Problemlösungskompetenzen der Parteien anschaulich demonstrieren lassen. Parteien verfügen trotz schleichendem Profilverlust im Zeitalter der großen Koalition immer noch über recht typische Kompetenzprofile in der Wahrnehmung der Bürger. So ist die CDU noch eher die Partei, die Kompetenzen in den Bereichen Wirtschaft und innere Sicherheit aufweist, während die Felder Sozialpolitik und Umwelt traditionell von der SPD abgedeckt werden. Demoskopische Institute ermitteln diese Kompetenzen regelmäßig und Parteien wiederum nutzen diese Erkenntnisse für ihre strategische Ausrichtung.

Wie eingangs bereits kurz angerissen, ist die Arbeit an der Medienagenda – und damit die Arbeit an der Publikumsagenda für Parteien von großer Bedeutung. Dominierende Themen in den Medien sind auch die Themen, in deren Licht Kandidaten und Parteien von den Wählern betrachtet werden. „There is a relationship between patterns of news coverage and the criteria with which the public evaluates politicians”, meint der Kommunikationsforscher Shanto Iyengar. In den 1980er Jahren legte der Stanford-Professor zusammen mit Kollegen Studien vor, die zeigten, dass die mediale Konzentration auf spezielle Themen im Wahlkampf indirekt so genannte „Priming-Effekte“ auf das Image eines Kandidaten zur Folge haben können. Bei der Einschätzung von Kandidaten oder Parteien beziehen sich die Menschen nicht auf ihr gesamtes Wissen, sondern auf das, was ihnen besonders leicht einfällt. Wird also in den Medien zu Wahlkampfzeiten intensiv über das Thema Arbeitslosigkeit berichtet, so wird eine Partei bzw. ihr Personal durch die „Themenbrille“ Arbeitslosigkeit bewertet.

In der politischen Praxis findet Agenda-Setting in ungezählten alltäglichen Austauschprozessen zwischen politischem und publizistischen System, zwischen Politikern, deren Beauftragten und Journalisten statt. Dabei kommt den Parteien zugute, dass auch die „Gegenseite“, die Medienvertreter, insgesamt auf gute Kontakte in die Politik hinein angewiesen sind. So profitieren alle von einer gewissen Reziprozität. „Der Journalist, der die Nähe zu Machteliten sucht, tauscht seine Dienste als Instrument, das beim Setzen der Medienagenda behilflich ist, gegen Status und exklusive Informationen ein“. Dergestalt fasst der Politikwissenschaftler Wolfgang Eichhorn die alltägliche Dynamik des Agenda-Setting zusammen. „Aber der journalistische Alltag besteht nicht nur aus direkten Kontakten zu Informationsquellen, ein Großteil des Inputs ist der Output des Systems subsidiären Journalismus’, von Öffentlichkeitsabteilungen von Unternehmen, Verwaltungen, Interessengruppen. Dieser Input ist meist schon vorstrukturiert, optimiert in Richtung dessen, was PR-Leute – häufig selbst Journalisten – als berichtenswert ansehen. Medienexterne Akteure versuchen also, mediale Agendas über direkte Kontakte und über eine geeignete Vorstrukturierung des Inputs der Medien zu steuern“.

Wer Begriffe wie „Issue-Management“ im Zusammenhang mit Parteien gebraucht, geht zumindest implizit davon aus, dass Parteien tatsächlich in der Lage sind, ihnen „passende“ Themen strategisch auf der Medien-Agenda zu lancieren und damit auch die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Entspringt aber diese Vorstellung nicht doch den Machbarkeitsphantasien des professionellen Politikmarketing? Die Kommunikationswissenschaftlerin Christiane Eilders hat zusammen mit einigen Kollegen den Bundestagswahlkampf 2002 untersucht. Die Autoren bestätigen in dieser Studie prinzipiell die These der „starken Medien“. Die rivalisierenden Parteien versuchen zu Wahlkampfzeiten die jeweils ohnehin bestimmenden Themen zu besetzen, sie „surfen auf der medialen Agenda“. Hingegen sei das eigenständige Agenda-Building bei allen Parteien nur mäßig erfolgreich.

Was aber ist gewonnen, wenn ein (vermeintliches) Gewinnerthema, mit oder ohne Hilfe der Medien, tatsächlich oben auf der medialen Agenda gelandet ist? Schauen wir dazu nach Hessen. Im Vorfeld des Landtagswahlkampfes 2008 verringerte sich der Abstand zwischen Ministerpräsident Roland Koch und seiner CDU zur Herausforderin Andrea Ypsilanti. Nun musste, ganz im Sinne moderner Wahlkampfführung und Issue-Management ein Thema gefunden werden, dass der hessischen CDU wieder etwas Luft verschaffen konnte. Während die CDU im Nachbarland Niedersachsen (nicht zuletzt durch die Popularität des Landesvaters) den sicheren Abstand zur SPD durch eine Wahlkampfkommunikation der ruhigen Hand ins Ziel rettete, wählte Koch einen Weg, der für amtierende Ministerpräsidenten eher unüblich ist. Um die Themenhoheit in Hessen (wieder) zu gewinnen, setzte man konfrontativ auf das Thema Jugend- und Ausländergewalt, hinter dem sich das „Megathema“ innere Sicherheit verbarg. Mit dem Kampf für einen Mindestlohn hatte sich zuvor bereits die hessische SPD mit einem durchaus zugkräftigen Thema in Stellung gebracht.

Ein trauriger Zufall wollte es, dass ein Münchner Rentner Opfer eines brutalen Überfalls durch zwei Jugendliche mit Migrationshintergrund wurde. Die Medien griffen den Zwischenfall auf, auch weil eine Überwachungskamera die Attacke festgehalten hatte, es demnach medial verwertbares Bildmaterial gab. In den Worten von Brettschneider und Eilders ließe sich nun durchaus sagen, dass die hessische CDU geschickt auf eine bereits anrollende Themenwelle aufsprang und diese dann „absurfte“. Tatsächlich stand bei vielen Medien schon vor dem Hessenwahlkampf das Thema Jugendgewalt auf der Agenda. Im Berliner Tagesspiegel erschienen z. B. 2007 in regelmäßigen Abständen Artikel über Jugendgewalt in der Bundeshauptstadt. So konnte Koch zwar nicht „gegen“ die existierende Medienagenda durchdringen, bemächtige sich aber findig eines Themas, dass bereits auf der Medienagenda stand, und schaffte es durch immer neue Beiträge, dass Thema Jugendgewalt oben auf der Aufmerksamkeits- und Relevanzskala zu halten.

Zweifellos war diese Kommunikationsstrategie mit der Hoffnung auf Priming-Effekte verknüpft: Dominierte bei den Wählern das Thema innere Sicherheit auch noch zur Wahl, erhofften sich die CDU-Strategen einen taktischen Vorteil, weil dieser Bereich eben traditionell zu den Kompetenzthemen der CDU gehört. Da das Thema Jugendgewalt tatsächlich in aller Munde war, schien die CDU erfolgreiches Agenda-Setting betrieben zu haben. Fast zwei Drittel der Hessen gaben in Umfragen der Meinungsforschungsinstitute an, dass Roland Koch „ein wichtiges Thema angesprochen“ habe. Gleichsam hatte man auch in Sachen Agenda-Cutting Erfolg. Das SPD-Kernthema soziale Gerechtigkeit, in Gestalt des Mindestlohnes, konnte nicht nur Hessen-, sondern bundesweit von der Agenda geschoben werden. Dabei aber blieb es nicht.

„Anfangs“, notierte Bernd Gäbler im Berliner Tagesspiegel, „wirkte Kochs Kampagne auch gut synchronisiert mit den Themen der ‚Bild-Zeitung’. Dann aber fiel das Thema ins Stimmengewirr des Medienpluralismus. Alle diskutierten. Jeder hatte eine Meinung“. So mochte Koch vielleicht im Verbund mit einigen Medien „sein“ Thema an die Spitze der medialen Themenrangliste gehievt haben. Dann aber, so Gäbler weiter, „musste er herabsteigen vom Thron einer überlegenen Position mitten hinein ins Schlachtgetümmel“. Und dort traten die Medien auf den Plan. Je länger über das Thema berichtet wurde, desto mehr wurden Programme und Wahlversprechen analysiert, Gewaltstatistiken in Hessen nachgeprüft und die Entwicklung öffentlicher Ausgaben im Bereich Polizei rekonstruiert. Damit war die Büchse der Pandora geöffnet. Rasch tauchten erste Meldungen auf, nach denen die Jugendgewalt in Hessen am stärksten angestiegen sei, dass die Landesregierung unter CDU-Führung im Polizeibereich massive Kürzungen vorgenommen habe. Der politische Konkurrent unterstützte diese Lesart natürlich.

So kam es schließlich, wie der Meinungsforscher Richard Hilmer von Infratest Dimap schon vor der Wahl vermutet hatte: der Einthemenwahlkampf rund um Jugend- und Ausländerkriminalität erwies sich als riskant und kostete Koch beinahe die Mehrheit. Wie angesprochen zeigten Meinungsumfragen zwar kurz vor der Wahl, dass eine Mehrheit der Befragten das Thema relevant fand. Gleichsam aber befanden 65 Prozent der Befragten, dass die Lösungsvorschläge der Hessen-CDU „nicht die richtigen" seien. Und sogar 82 Prozent waren der Ansicht, dass Koch "erst mal seine eigenen Hausaufgaben in Hessen machen und dafür sorgen sollte, dass es dort schneller zu Gerichtsurteilen kommt". Mit 36,8 Prozent der Stimmen blieb die hessische CDU dann zwar denkbar knapp stärkste Kraft, musste aber im Vergleich zur Wahl 2003 erdrutschartige Verluste hinnehmen. Und dies obwohl die CDU mit „ihrem“ Thema Jugendgewalt den Wahlkampf geprägt hatte, während die Unterschriftenaktion der Konkurrenz zum Thema Mindestlohn in der Öffentlichkeit kaum stattfand.

Hatte die hessische CDU auf das falsche Thema gesetzt? Eine erste Lektion mag wie folgt lauten: auch Kompetenzthemen können polarisieren und damit nicht nur die eigene Klientel zum Gang an die Wahlurne mobilisieren. Im Licht erster Wahlanalysen wurde zweitens deutlich, dass sich die Themenagenda der Wähler schnell wandeln kann. Bei den tatsächlichen Wahlentscheidungen waren die Themen Arbeitslosigkeit und Bildungspolitik in Hessen offensichtlich wichtiger gewesen, als es ursprünglich in Vorfelderhebungen den Anschein hatte. Hier freilich stehen die Spin-Doctors aller Parteien vor einer großen Herausforderung. Wie kann eine Kommunikationsstrategie, die eigentlich von langer Hand vorbereitet werden muss, auf solche heute typischen, kurzfristigen Präferenz- und Einstellungsveränderungen der Wählerschaft reagieren? Drittens zeigte sich, dass die Kompetenzwerte der hessischen CDU im Themenfeld innere Sicherheit gerade während der heißen Wahlkampfphase gelitten hatten. War diese Entwicklung nicht auch Ursache der medialen Dauerdurchleuchtung des Themas Jugendkriminalität? Viertens lässt sich im Sinne des Politikwissenschaftlers Bernhard Cohen – „[The press] may not be successful much of the time in telling people what to think, but it is stunningly successful in telling its readers what to think about” – festhalten, dass Parteien vielleicht Themen setzen können, aber nicht darüber bestimmen, wie dieses Thema von den Medien und den Menschen schließlich ausgelegt wird. Hier machen sich Begriffe wie Themenmanagement in Handbüchern der Polit-PR sicher gut, suggerieren jedoch eine gezielte Beeinflussbarkeit der öffentlichen Meinung, die so nicht gegeben scheint.

Ein Thema auf die mediale Tagesordnung zu befördern und auf der Relevanzskala nach oben zu bringen, ist schließlich nur der erste Schritt für politische Parteien. Weiterhin muss es darum gehen, das Thema kontinuierlich mit einem bestimmten, für Parteien förderlichen Bedeutungsrahmen zu versehen. Dieser Prozess wird im Fachjargon oft als „second-level agenda-setting“ oder auch „framing“ bezeichnet. Hier vollzieht sich ein immerwährender Kampf um Deutungshoheit, zwischen Parteien, „den“ Medien und auch anderen Interessengruppen. Es geht dabei um die diskursive Durchsetzung von Problemdefinitionen, kausalen Interpretationen, es geht um moralisch-normative Beurteilungen und „angemessene“ Lösungsmöglichkeiten politischer Probleme. Ob diese Praxen in einer plural-komplexen Mediengesellschaft durch Parteien strategisch unter Kontrolle gebracht werden können, ist diskutabel. Aus Sicht der Parteien und ihrer Strategen mag dies bedauerlich sein, für eine Demokratie nicht unbedingt. Aber das ist nun wieder ein anderes Thema.

Der Autor



Christian Junge

Geboren am 17. Oktober 1975. Sozialwissenschaftler. Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Europäischen Ethnologie / Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg, der University of Manchester und der Universität Konstanz. Derzeit Doktorand an der Georg-August-Universität Göttingen und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag.
Zuletzt Visiting Scientist am Department of Political Sciences der Columbia University, New York; seit 2005 Promotionsstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung. Letzte Veröffentlichung: „Parteien in Berlin“ zusammen mit Jakob Lempp.





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