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    Seit 15 Jahren 
    gibt es das World Wide Web, doch erst in den vergangenen zehn Jahren hat 
    es sich zu einem Massenmedium entwickelt, das aus dem Alltag der 
    meisten Menschen in den Industrieländern nicht mehr wegzudenken ist. Die 
    Vielfalt der technischen Entwicklungen seit Ende der  90er-Jahre, aber auch 
    die Moden, Klassiker und Sünden des Web-Designs kann jeder Online-Nutzer mit 
    Hilfe des 
     Internet Archive selbst nachvollziehen. Dort sind 
    beispielsweise die erste Startseite von Google aus dem Jahr 1998 („ Might-work-some-of-the-time-prototype“), die ersten Gehversuche der deutschsprachigen Wikipedia von 2002 („ Wir haben 
    bereits 5183 Artikel“) und die Anfänge von  
     YouTube aus dem Jahre 2005 zu 
    besichtigen.  
     
    In die Zeit von 1998 bis 2008 fallen aber nicht nur 
    Veränderungen des Gesichts des Webs durch technische Neuerungen. Mancher 
    Online-Nutzer erinnert sich sicherlich noch an die privaten Homepages aus 
    frühen Homepagebaukästen, die voller blinkender Gif-Grafiken und greller 
    Laufschriften waren; eventuell empfindet er die moderneren 
    Voll-Flash-Installationen einiger heutiger Web-Auftritte als nicht weniger 
    hyperaktiv.  
     
    Mit dem Aufstieg 
    und Fall der Dot.com-Manie 2000 und 2001 und dem weit vorsichtigeren Boom 
    jener Online-Dienste, die gemeinhin mit dem Schlagwort Web 2.0 bezeichnet 
    werden, waren die letzten zehn Jahre auch wirtschaftlich für das Internet 
    und seine Macher eine bewegte Zeit. Und in der Folge der geplatzten 
    Dot.com-Blase musste auch die Gesellschaft im Real Life erfahren, 
    welches Gewicht das Internet inzwischen gewonnen hatte. 
     
    Gesellschaftliche 
    Fragen der „Datenautobahn“ beschäftigten von Anfang an Politiker, 
    Philosophen und Wissenschaftler. Wie so oft, wenn ein neues Medium immer 
    populärer wird, ruft es neben manchmal überzogener Euphorie auch Ängste und 
    Befürchtungen hervor – die freilich ebenfalls oft nicht realistisch sind. 
    Zehn Jahre vielfältiger Entwicklung des World Wide Web sind ein geeigneter 
    Anlass, ein Zwischenfazit zu ziehen. Welche Utopien sind gescheitert, welche 
    Lebenslügen enttarnt worden? Welche Hoffnungen haben sich erfüllt, welche 
    unerwarteten Geschenke hat das Netz seinen Nutzern gemacht? 
     
    Die Kommunikationswissenschaftlerin Margot Berghaus formulierte im Jahr 1997 
    „Sieben Thesen und ein Fazit“ zu der Frage „Was macht Multimedia mit 
    Menschen, was machen Menschen mit Multimedia?" (Berghaus 1997). 
     
    Dabei umfasst der Multimediabegriff zwar mehr als das World Wide Web, rückblickend 
    betrachtet sind die Thesen jedoch vor allem darauf anwendbar: „CD-ROM und CDi“ erreichten nie die Verbreitung, die das WWW heute hat, „interaktives 
    Fernsehen mit Settop-Box“ ist immer noch kein Massenmedium geworden und 
    „Computersimulationen, Virtual Reality usw.“ sind heute vielfach integraler 
    Bestandteil des World Wide Web und nicht auf externe Anwendungen wie 
    Spielkonsolen beschränkt. 
     
     
    
    Medienkonkurrenz 
     
    Aus der ersten 
    Berghaus-These stammt der Satz „Nach dem Fernseh-Zeitalter kommt das 
    Multimedia-Zeitalter“ (Berghaus 1997: 74) 
    – eine Annahme, die Medienforscher direkt zur Frage der substituierenden 
    Mediennutzung führt: Sehen Menschen weniger fern, weil sie das Internet 
    nutzen? Die Frage ist nur differenziert zu beantworten. Bestimmte, vor allem 
    jüngere Online-Nutzer-Typen wie „Junge Wilde“ und „Zielstrebige Trendsetter“ 
    gaben in der ARD/ZDF-Online-Studie an, dass sie ihren Fernsehkonsum 
    reduziert hätten (sehen aber auch Printmedien und das Radio von dieser 
    Substitution betroffen). Die Wahrnehmung der Internetnutzer wird dabei durch 
    Daten zur tatsächlichen Nutzungsdauer gestützt: Wer ein beschränktes 
    Zeitbudget für die Mediennutzung hat, muss seine Online-Zeit von anderen 
    Medien abziehen (Oehmichen/Schröter 2007: 416f.). 
    Davon ist in vielen Fällen besonders das Fernsehen betroffen, stellte es 
    doch früher einen besonders großen Teil der für die Mediennutzung 
    aufgewandten Zeit. Gleichwohl verfällt das Fernsehen nicht in 
    Bedeutungslosigkeit, ist bislang nicht vom Internet völlig verdrängt worden. 
    Global betrachtet sehen Onlinenutzer sogar etwas mehr fern als Nichtnutzer 
    (van Eimeren/Frees 2007: 376). 
    Der von Margot Berghaus erwartete Zeitenwechsel deutet sich also zwar 
    weiterhin an, ist aber noch lange nicht vollzogen.  
     
    Die Frage, ob das 
    überhaupt jemals geschehen wird, führt zur zweiten These aus dem Jahr 1997: 
    „Multimedia verdrängt nicht das Fernsehen und die anderen ‚alten‘ Medien. 
    Die ‚alten‘ werden zu einer Steuerungs-, Orientierungs- und 
    Zulieferungsinstanz für die ‚neuen‘ Medien“ (Berghaus 1997: 75). 
    Dieser als Riepl’sches Gesetz bekannt gewordenen Annahme zum Trotz 
    wurden in der Vergangenheit immer wieder Kommunikationsmittel zur Ablösung 
    durch elektronische Kommunikation vorgeschlagen. Erinnert sei in diesem 
    Zusammenhang an Pläne für das „papierlose Büro“ oder die Überlegung, E-Books 
    mit geeigneten mobilen Lesegeräten könnten das klassische Buch verdrängen. 
    Der Tatsache zum Trotz, dass elektronische Bücher heutzutage in den 
    verschiedensten Formaten durchaus 
    
     eine Rolle für 
    
     den Interessierten spielen, beweist ein Blick in 
    eine beliebige Bahnhofsbuchhandlung, dass das klassische Buch keineswegs 
    ausgedient hat. Und ein Blick in beliebiges Büro zeigt, dass Papierlosigkeit auch im Jahre 2008 noch immer Utopie ist. 
     
     
    
    Mitmach-Web? 
     
    Die zunehmende 
    Verfügbarkeit von Online-Kommunikation verändert jedoch nicht nur die 
    Medienlandschaft, sondern auch ihre Nutzer. Angesichts der Entwicklungen in 
    dem Bereich, der mit dem Schlagwort Web 2.0 assoziiert wird, scheint 
    Berghaus‘ These aus dem Jahr 1997 durchaus zutreffend zu sein: „Das 
    traditionelle Massenmedienmodell gilt nicht mehr: „‘Sender‘, ‚Medium‘ und 
    ‚Empfänger‘ (‚Publikum‘) werden demontiert“ (Berghaus 1997: 77). 
    „Mitmach-Web“ und Web 2.0 sind in aller Munde, der Rezipient scheint 
    endgültig den Schritt zum Kommunikator getan zu haben: Blogs, Wikipedia, 
    Medienplattformen wie Youtube und Produktbewertungsseiten leben vom 
    Engagement der Nutzer, User-Generated-Content ist zentrales Merkmal des 
    Phänomens hinter dem Schlagwort Web 2.0 (Kilian/Hass/Walsh 2008). 
    Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass nicht nur das Schlagwort 
    
     einen Entwicklungssprung vorgaukelt, der sich in Wirklichkeit lediglich als 
    eine kontinuierliche Entwicklung darstellt. Auch die Bedeutung der von 
    Nutzern bereitgestellten Inhalte wirkt wie durch die Lupe der 
    YouTube-Euphorie vergrößert. Nur ein geringer Teil der Nutzer der Web 
    2.0-Plattformen trägt selbst etwas bei: sieben Prozent bei Videoportalen, 25 
    Prozent bei Weblogs, sechs Prozent bei Wikipedia (laut ARD/ZDF-Onlinestudie, 
    Gscheidle/Fisch 2007: 401), 
    der Löwenanteil der Nutzer besteht weiterhin aus klassischen Nur-Rezipienten, 
    „Lurkern“ im Jargon des Internet.  
    
     Es ist nicht einmal sicher, dass der 
    Anteil der aktiven Nutzer heute höher ist als vor zehn Jahren: 
    Homepage-Baukästen, Web-Chats und das Usenet erlaubten damals schon jedem 
    Internetnutzer selbst etwas zum Netzinhalt beizutragen; durch die ebenfalls 
    mit dem Begriff Web 2.0 bezeichneten technischen Weiterentwicklungen wie AJAX 
    (Asynchronous Javascript and XML, baut 
    beispielsweise baut auf dem schon lange etablierten Java-Script auf) ist es 
    lediglich für die breite Masse der heute aktiven Anwender leichter geworden, 
    sich im Internet zu verewigen. 
     
     
    
    Grenzen 
     
    Die erste 
    Generation der deutschen Internetnutzer war noch eine technisch versierte, 
    junge, männliche, gut gebildete Informationselite (van 
    Eimeren/Frees 2007). 
    Angesichts dessen formulierte Margot Berghaus im Jahr 1997 ihre 
    Befürchtungen – aber auch ihre Hoffnungen – hinsichtlich der Wirkung des 
    Internet auf gesellschaftliche Grenzen: „Eine Grenze zwischen Jung und alt 
    wird errichtet“, „Eine Grenze zwischen Männern und Frauen wird errichtet“; 
    aber auch „Die Grenze zwischen sozialem Oben und Unten wird abgeflacht“ (Berghaus 1997: 80f.). 
    Und in Teilen der Politikwissenschaft wurden Ende der  90er-Jahre Visionen 
    umfassender politischer Partizipation propagiert, E-Democracy, 
    Habermas'scher Elitediskurs für alle.  
     
    Einiges davon hat 
    sich bewahrheitet, manches ist inzwischen überwunden und anderes hat sich 
    als Utopie entpuppt. Der einige Jahre vorherrschende Unterschied bei der 
    Online-Nutzung durch Männer und Frauen ist deutlich kleiner geworden: 1998 
    war der Anteil der männlichen Online-Nutzer fast dreimal größer als der der 
    weiblichen Nutzer (15,7 zu 5,6 Prozent), 2007 liegen die Männer zwar immer 
    noch vorn, führen aber nur noch mit einem Anteil von 68,9 Prozent gegenüber 
    den Frauen (56,9 Prozent) (Van Eimeren/Frees 2007: 364). 
    Eine deutliche Mehrheit von Männern und Frauen ist online. Auch 
    ältere Menschen finden zunehmend Zugang zum Netz (Van Eimeren/Frees 2007: 363f.) 
    – wobei man freilich bedenken muss, dass auch Internetnutzer altern und sich 
    das WWW mit dem Älterwerden ehemals junger Nutzergenerationen automatisch zu 
    einem „Alte-Leute-Medium“ entwickeln wird. Vormals bestehende soziale 
    Grenzen – verursacht vor allem durch hohe Kosten für die Online-Nutzung – 
    sind durch Breitband-Flatrates entschärft worden. Dabei bleibt jedoch die 
    Tatsache, dass geringe Bildung immer noch hoch mit Nichtnutzung des Internet 
    korreliert (Gerhards/Mende 2007: 380) 
    als Problem bestehen. Nicht erfüllt haben sich dagegen die Träume von 
    totaler E-Partizipation mündiger Web-Nutzer: Das Internet dient den meisten 
    zwar überwiegend zur Information (van Eimeren/Frees 2007: 368.), 
    ist aber schon rein inhaltlich kein rein politisches Medium. 
     
     
    Fazit 
     
    In zehn Jahren hat 
    sich im World Wide Web vieles geändert, manches rasant, anderes nur 
    allmählich. Das Web hat die Medienlandschaft gewandelt aber nicht 
    revolutioniert, es hat aus Rezipienten Kommunikatoren gemacht, wenn auch 
    nicht in dem Ausmaß, das der Hype um Web 2.0 nahe legt. Das WWW erreicht 
    heute mehr Menschen und seine Nutzer zeigen immer weniger soziale 
    Unterschiede, wenngleich die Be- und Entgrenzungstendenzen auch in diesem 
    Bereich nicht so hart ausgefallen sind, wie Ende der 90er-Jahre von manchem 
    erwartet. Die Entwicklung geht weiter und vielleicht hat die Gesellschaft ja 
    vom semantischen Web („3.0“) oder von  
     IPv6, das die Einbindung aller 
    erdenklichen Alltagsgegenstände ins Internet ermöglicht, die revolutionäre 
    Entwicklung zu erwarten, die eigentlich schon für Web 1.0 und Web 2.0 
    vorhergesehen worden war.  | 
    
     
    Der Autor 
     
    
      
     
     
    
    Dr. Thomas Roessing, Jahrgang 1973, studierte in Mainz 
    Publizistikwissenschaft, Politikwissenschaft und Strafrecht. 2000 bis 2001 war 
    er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt VIROR (Virtuelle Hochschule 
    Oberrhein) an der Universität Mannheim. Seit 2002 ist er wissenschaftlicher 
    Mitarbeiter und EDV-Beauftragter am  
     Institut für Publizistik der Johannes 
    Gutenberg-Universität in Mainz. 2007 wurde er mit einer Arbeit über 
    empirische Methoden und Analysestrategien für die Forschung zur Theorie der 
    Schweigespirale promoviert. Er ist Herausgeber des Sammelbandes "Politik und 
    Kommunikation -- interdisziplinär betrachtet"; seine Schwerpunkte in 
    Forschung und Lehre sind Methodenlehre und Online-Kommunikation. 
     
     
    
    
      
     
    
    
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    von Astrid Lamm  |