Ausgabe 59
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Google Streetview
Über ein Bildlexikon und seinen Alleingeltungs-anspruch



Text: Simon Bieling
Bild: Google Streetview
 


1927 beschrieb der Künstler László Moholy-Nagy hoffnungsvoll eine Zukunft, in der jeder eine private Pinakothek von Reproduktionen sein eigen nennen können würde. Mit der „Haus-Pinakothek“ sollte die „Vorherrschaft des manuell hergestellten Einzelbildes“ einem endgültigen Ende zugeführt werden. Der „tote Zimmerschmuck“ des singulären Wandbildes sollte mit einer Vielzahl von in Schrankfächern abgelegten Reproduktionen ersetzt werden. Die einfache Verfügbarkeit einer großen Zahl von Bildern hielt er für eine willkommene Zukunftsvision.

Klobige Bildschränke, wie sie sich Moholy-Nagy wünschte, haben trotz des Werbetalents des Künstlers nie in den Wohnzimmern Einzug erhalten. Nur seine Hoffnung, dass der Vielzahl der Bilder vor dem Einzelbild der Vorzug zu geben und die Verfügbarkeit der Bilder zu erhöhen sei, wurde mit Websites wie YouTube, Flickr, aber auch Google Maps mehr als erfüllt. Dennoch wäre es unpassend gar in den Bildwelten des Internets eine „Haus-Pinakothek“ neueren Datums oder eines universalen musée imaginaire zu sehen. Denn damit näherte man sich nicht nur den reichlich abgegriffenen Metaphern des Internets als eines „virtuellen Raums“ an. Auch würde ein einfaches, aber wesentliches Faktum zu wenig hervorgehoben. Trotz aller Unterschiede ist es den Bildportalen nämlich gemein, dass sie erlauben, Bilder nach Begriffen abzurufen.

So erfasst es die Merkmale der Bildportale besser, wenn man sie als Bild-Enzyklopädien beschreibt. Websites wie YouTube, Flickr werden schließlich für nichts anderes genutzt als Bilder nachzuschlagen. Sie sind darüber hinaus aber auch deshalb Enzyklopädien, weil die Seiten für nahezu jedes Bildinteresse, das mit einem Begriff eingegeben werden kann, Bilder zur Anzeige bringen können. Die verschiedenen Bildplattformen machen für jeden Begriff, der einen Ort, eine Person, eine Region, ein Restaurant oder ein Produkt bezeichnet, Bilder verfügbar. Vielbändige Buchenzyklopädien entsprechen der Erwartung, gestützt auf Autoritäten einen umfassenden Überblick des existierenden Wissens zu bieten. Von den heute zugänglichen Bildportalen, den Bildlexika des Internets, erhoffen wir uns dagegen zu allen denkbaren Begriffen eine möglichst hohe Bildausbeute.

Enzyklopädien sind gekennzeichnet durch zwei entgegenläufige Merkmale, die sie jeweils stärker oder schwächer prägen. Einige sind im Arrangement ihrer Inhalte stark als eine umfassende Systematik angelegt. Überwiegt dieser Aspekt versuchen sie für sich einen Autoritätsstatus zu etablieren, indem sie sich als beglaubigende Wissensinstanz in Szene setzen. Andere Enzyklopädien haben hingegen eher die Eigenschaft, einzelne Wissensgebiete so in Nachbarschaft zu stellen, dass durch Vergleichsmöglichkeiten einseitige Privilegien bestimmter Gebiete relativiert werden können. Ähnliches gilt auch für hier als Bildlexika- oder -enzyklopädien bezeichneten Bildportale des Internets. Ein Teil von ihnen, besonders aber Google Streetview und Google Maps, organisieren ihre Bildangebote in eine einheitliche Systematik. Andere Formate wie YouTube und Flickr betten dagegen die Bilder eher in vielfache Vergleichshorizonte ein.

Hinsichtlich der jüngsten Entwicklungen eines ‚mobilen Internets‘ ist vor allem Google Streetview
unter den relevanten visuellen Bildenzyklopädien von besonderem Interesse. Für diese Unterfunktion von Google Maps ist die mobile Verfügbarkeit als Bildenzyklopädie mit besonderen Konsequenzen verbunden. Die Funktion ist letztlich als das Versprechen ausgerichtet, zu jedem Ort, ob Stadt oder Land, ein Bild liefern zu können. Da auf diese per Smartphone oder Mobiltelefon heute bequem an letztlich jedem Ort zugegriffen werden kann, werden Bilder öfter als zuvor in einen unmittelbaren Bezug mit den Gegenständen gesetzt, die sie selbst abbilden. Google Streetview liefert in diesen Fällen nicht nur Abbildungen. Das aufgerufene Bild erzeugt dann auch Erwartungen, mit denen die abgebildeten Gegenstände und Orte in Bezug gesetzt werden.

Schon heute liegt es schließlich nahe, in bereits ‚erfassten‘ Städten wie London oder New York, etwa jedem Besuch eines Restaurants auf dem Weg noch einen kurzen, prüfenden Blick auf dessen Bildauftritt in Google Streetview vorausgehen zu lassen. Der Abbildung der Fassadenflächen sowie der Straßen und Plätzen, an denen sich ein Restaurant befindet, möchte man entnehmen, wie gut etwa die Atmosphäre des Restaurants oder gar das Essen sein könnte. Ist das Ergebnis der Bildlektüre ansprechend genug, hofft man, dass es den eigenen Erwartungen auch insgesamt entsprechen wird. So entscheidet eine Vorbesichtigung per Bild über den letztendlichen Besuch.

Die Pointe liegt aber freilich nicht nur darin. Ein Restaurant kann gleich doppelte Bildtauglichkeit und Fotogenität beweisen, wenn
Google Streetview zum alltäglichen Bildnachschlagewerk wird: zum einen in der Übersetzung zum Bild, das auf dem Mobiltelefon innerhalb von Google Streetview einer eingehenden Prüfung unterzogen wird und zum anderen aber auch vor Ort, wo den möglicherweise positiven Qualitäten des Bildes auch entsprochen werden muss. Ein prägnanter Schriftzug oder eine besondere Farbgestaltung der Fassade können eingesetzt werden, um dem Bild gerecht zu werden.

Die Eindrücke, die dem aufgerufenen, nachgeschlagenen Bild entnommen worden sind, bilden einen Erwartungshorizont, der im besten Fall nicht zu enttäuschen ist. Wie stark sich diese Entwicklung erweisen wird, hängt davon ab, ob es tatsächlich zu einer Gewohnheit wird, die Bildansichten der Stadt eines Angebots wie
Google Streetview bei solchen Gelegenheiten einzusetzen.

Für andere schon immer auf Schaubarkeit und Bildtauglichkeit angelegte Viertel und Gebäude des urbanen Raums, also etwa Sehenswürdigkeiten, entsteht dadurch dagegen keine entscheidende Novität. Weil zum Beispiel die beiden bekannten Türme von Pisa und Paris schon lange als willkommene Bildgegenstände etabliert sind, findet hier keine wesentliche Änderung statt. Man versichert sich allenfalls noch einmal ihrer Bildwürdigkeit, wenn man ihre Bild kurz vor Ankunft noch einmal auf dem Mobiltelefon in
Google Streetview nachschlägt. Dass sie dort stärker als bisher innerhalb eines größeren Bildzusammenhangs erscheinen, ist so die vielleicht einzige Änderung, die für die zukünftigen Bildkarrieren solcher Sehenswürdigkeiten zu erwarten ist.

Bisher als kaum interessant bewertete Orte in der Umgebung erhalten als Bildnachbarn Relevanz. Der weitverbreitete Wunsch, die nur zur Ansicht bestimmten Sehenswürdigkeiten aufzusuchen, um Selbstporträttrophäen nach Hause zu bringen, wird jedoch vermutlich bestehen bleiben.

Google Streetview transformiert den städtischen Raum in ein umfassendes lesbares visuelles Feld. Die Bilder urbaner Räume werden eingefügt in ein scheinbar unbegrenztes Panorama, das je nur in Ausschnitten sich dem Besucher offeriert. Damit liefert Google Streetview als Bildenzyklopädie neue Möglichkeiten, städtische und ländliche Räume zu lesen und zu deuten. Jeden Ort auf dem Mobiltelefon zunächst einer Vorbesichtigung unterziehen zu können, verschafft die Möglichkeit, dem städtischen Raum auf neue Art und Weise Bedeutungen zuzuordnen. Nichtsdestotrotz ist auch eine Distanznahme zu Google Streetview nicht nur unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten angebracht. Denn mit diesem visuellen Lexikon der Orte nimmt das Unternehmen die zweifelhafte Autorität einer ‚bildgebenden‘ Instanz in Anspruch. Falsch wäre es, dieser Tendenz stattzugeben, der Fotografie eines Ortes allein aufgrund seines Erscheinungskontextes in Google Streetview Geltung zuzuschreiben und jegliche alternative Bildmöglichkeiten von vornherein auszuschließen. Zu hoffen bleibt deshalb, dass es gelingt, eine Bildkonkurrenz diesen Versuchen entgegenzusetzen. Nicht aber, um etwa das eigentliche Bild der Stadt zu präsentieren. Erstrebenswerter ist es, der doch einseitigen Bildperspektive der Google Streetview weitere hinzuzufügen und so auf vermeintlich nicht existierende Vergleichsbilder hinzuweisen. Allein damit wäre schon der Zweck erreicht, dass ein städtischer Raum anhand nicht nur eines, sondern vieler Bilder der Lesbarkeit zugänglich gemacht würde.



Der Autor




Simon Bieling

Geboren 1979, Studium der Fotografie in Bielefeld (Abschluss 2005), 2004—2006 Beaumont Newhall Curatorial Fellow in der Fotografieabteilung des Museum of Modern Art, dort zuständig für die kunsthistorische Erschließung der Thomas Walther Collection, einer der bedeutendsten Fotografiesamm-lungen der klassischen Moderne. 2010 Studienabschluss Kunstwissen-schaft/Medientheorie und Philosophie
an der HfG Karlsruhe.