PRIVATES TELEFONIEREN IN DER ÖFFENTLICHKEIT

Wie viel Rücksicht nehmen die Deutschen?


TEXT UND BILD: MALTE FLORIAN KLEIN


Der ICE gleitet durch Norddeutschland. Hinter Osnabrück beschleunigt er auf 200 Stundenkilometer. An diesem Montagabend sitzen nur wenige Fahrgäste im Großraumwagen. Während draußen die Landschaft schemenhaft vorbeifliegt, entspannen sich im Waggon Menschen nach einem langen Tag. Immer wieder klingelt ein Handy. „Hallo, ach schön, dass Du anrufst. Ich habe einen neuen Freund. Ja, ich glaube wir passen gut zusammen.“ Was für die blonde Frau ein Segen der mobilen Welt ist, wird für Ruhe bedürftige Reisende schnell zum Ärgernis. „Warum muss die denn jetzt der dritten Person erzählen, dass sie nicht mehr Solo ist?“, fragt sich manch einer. Die Telefonate scheinen kein Ende zu nehmen. Und sie tratscht ausnahmslos über ihr Privatleben.

Segen oder Problem?

Im Jahr 2000 überstieg die Zahl der Handybesitzer erstmals die der 50 Millionen Festnetzanschlüsse in Deutschland. Die Gesellschaft ist gespalten. Telefonunternehmen malen sich die mobile Welt in den schönsten Farben aus. Auf der anderen Seite bedauern Wissenschaftler eine Vermischung von Privatsphäre und Öffentlichkeit.

Neue Generation nutzt Zeit anders

Nadine Kleinert von O2 sagt, dass das Handy einfach zur neuen Generation dazu gehört. Alles sei mobiler und flexibler geworden. „Die Zeit beim Warten auf dem Flughafen oder im Zug, die sonst praktisch verfallen würde, wird heute zum Telefonieren genutzt“, so Kleinert. Dadurch werde Zeit besser genutzt.

Telefonieren vor Publikum

Das sieht der Erfurter Professor Joachim R. Höflich anders. Er gibt sich in dem kommunikationswissenschaftlichen Aufsatz „Das Handy als ‚persönliches Medium.’ Zur Aneignung des Short Message Service (SMS) durch Jugendliche“ zeitkritisch. „Das mobile Telefon ist schon dadurch etwas anderes, indem es die intime Situation der häuslichen Kommunikation aufbricht und das Telefonieren öffentlich macht […]“ Dadurch werde Öffentliches und Privates miteinander vermischt. Höflich schreibt weiter, dass Intimes vor einem Publikum ausgetragen werde, das es sich nicht ausgesucht habe, eines zu sein.

Restaurantkunden nehmen Rücksicht

In den Maredo-Restaurants ist Telefonieren erlaubt. Probleme mit ständig klingelnden Handys gibt es aber nicht, sagt Marketingleiterin Rita Hans. „Die Leute sind empfindsamer gegenüber anderen Besuchern“, schätzt sie die Situation ein. Viele Gäste hätten ihr Telefon auf Vibrationsalarm gestellt oder gingen beim ersten Klingeln ran. Das sei vor drei Jahren anders gewesen, als Handybesitzer später abnahmen. Rita Hans erklärt sich die erhöhte Rücksichtnahme dadurch, dass fast jeder ein Mobiltelefon habe.

Klingeln im Kino die Ausnahme

In den Kinos der Cinemaxx-Gruppe muss das Gerät ausgestellt werden, bevor der Film läuft. Darauf werden die Zuschauer durch einen während der Werbung hingewiesen. „Dadurch wird das Bewusstsein geschärft“, sagt Pressesprecher Arne Schmidt. Klingelt es doch bei jemandem, können sich Gäste an die Servicekräfte wenden. „Einer unserer Mitarbeiter wird ohne aufzufallen in den Saal gehen und die Person ansprechen.“

Handyfreie Zone

Die Bahn hat auf die Gewohnheiten ihrer Fahrgäste reagiert. In einigen Wagen sind Handys unerwünscht, so Bahnsprecherin Claudia Wachowitz. „Dort sind Piktogramme mit einem Finger vor dem Mund an den Seitenwänden.“ In anderen Waggons des ICE gebe es extra Repeater, die den Empfang verbessern sollten. Die Bereiche seien durch ein Telefon-Piktogramm gekennzeichnet. „Ob jemand telefonieren oder nicht gestört werden möchte, kann man bei der Platzreservierung angeben.“



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