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Presse

Fast Backward
Die Rückkehr der Geschichte im Internet






Text: André Donk
Bild:
photocase.com/©Gerti G.











Der Autor



André Donk

André Donk M. A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster und forscht zu den Themen Medien und Erinnerung, Medialisierung der Wissenschaft sowie politische Medienwirkungen. Er war in den Jahren 2007 und 2008 zudem Mitarbeiter im Drittmittelprojekt „Risikowahrnehmung beim Thema Nanotechnologie. Analyse der Medienberichterstattung“ (Bundesinstitut für Risikobewertung) sowie National Research Correspondent für Deutschland (mit Frank Marcinkowski) in dem international vergleichenden Forschungsprojekt "Media and Democracy Monitor" (Swiss National Science Foundation).


1.
Mehr Geschichte war nie – man kann sich des Eindrucks gar nicht erwehren, dass „eine Flutwelle der Erinnerung über die Welt hereingebrochen“ ist, wie der französische Philosoph Pierre Nora (2002) schreibt. Zumindest die Medien zelebrieren kraftvoll die Wiederkehr der Geschichte: History ist das Format der Stunde. Wer glaubte, lediglich der nun mittlerweile immerhin acht Jahre zurückliegende Jahrtausendw
echsel und die damit verbundene Tendenz zur Rückschau habe uns einen Boom retrospektiver TV-Dokumentationen wie 100 Jahre (ZDF) oder Die 100 Wörter des Jahrhunderts (3Sat) beschert, sieht sich getäuscht. Öffentlich-rechtliche wie private Sender, aber auch die Kinofilm- und Zeitschriftenproduzenten entdecken Geschichte als Stoff für Geschichten: Vom Wunder von Lengede (Sat1) über Bernd Eichingers Der Untergang bis zum neuen Zeitschriftenformat Einestages - Wie wir wurden was wir sind aus dem Hause Spiegel. Mit Einestages schafft zum ersten Mal ein online gestartetes Format den Sprung in den Print – auch dies ein Indiz für die neue Sehnsucht nach Geschichte.

2.
Liegt die Zukunft des Netzes also in der Vergangenheit? Intuitiv erscheint eher das Gegenteil: „Im Zeitalter der Speicherbarkeit aller Informationen nämlich zeigt sich deren paradoxe anarchivische Signatur: Der Cyberspace hat kein Gedächtnis“ (Ernst 2002). Denn das Internet sowie seine Angebote, so die Klage einiger Kulturwissenschaftler, unterliegen der permanenten Redaktion. Eine Drucklegung erfolgt nicht. Das betrifft vorderhand die medial-technologische Ebene – Aufbau, Struktur, Layout und die Inhalte von Seiten verändern sich beständig – manche verschwinden auch völlig aus dem Netz. 404 not found.

Gedächtnis und Erinnerung im Internet finden viel eher in den Kommunikationen statt – einestages.de ist nur ein Indiz dafür. Der Ort der öffentlichen Kommunikation über Vergangenheit – zum Beispiel über den türkischen Genozid an den Armeniern oder über die Verfolgung der Zeugen Jehovas durch die Nationalsozialisten, aber auch die Erinnerung an gemeinsame Schulzeiten, Urlaube oder Heroen der Polit- wie Popkultur – ist heute oftmals das Netz. Private Geschichte wird in den Strom der öffentlichen Kommunikation über Vergangenheit eingebettet. Einestages.de ist dabei weder der erste noch einzige institutionelle Anbieter erzählter Geschichte: Das Deutsche Historische Museum hat das Projekt
LeMO (Lebendiges virtuelles Museum online) initiiert, das es Menschen erlaubt, ihre privaten Erinnerungen an Ereignisse unter Rubriken wie ‚1. Weltkrieg' oder ‚Luftangriffe' zu veröffentlichen. Auch der Radiosender SWR2 hat seine Zuschauer dazu aufgerufen, im Internet über ihre Erinnerungen zu berichten und in ein Zeitzeugnis-Archiv einzustellen. Und der Anspruch? Der ist groß. Einestages.de: "Gemeinsam mit Ihnen wollen wir ein kollektives Gedächtnis unserer Gesellschaft erschaffen." Das Internet transformiert individuelle Erinnerungen in prinzipiell öffentliche. Aber erzählt es damit andere, persönlichere Geschichten – abseits offizieller Geschichtsdidaktik?  

3.
Aktuell finden sich 894 Themen bei einestages.de. Darunter prominent natürlich Themen wie die ‚Deutsch-Deutsche Teilung’ oder die ‚Weltkriege’ sowie die ‚Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft’. Aber auch alltags- und kulturgeschichtliches wie Beiträge zur Markteinführung von Viagra 1998 oder der Vinylschallplatte 1953. Die Dominanz politischer Themen allerdings ist beim Durchblättern der Datenbank augenfällig – neue Themen also kaum, bestenfalls neue Subjektivitäten. 2.930 Autoren haben auf einestages.de schon einmal veröffentlicht. Dabei werden aber nicht nur genuine Zeitzeugenberichte als Veröffentlichung gezählt, sondern auch jedwede Form von Kommentaren zu den Beiträgen. Unter den Autoren finden sich auch Prominente und Politiker wie Heide Simonis, die die Möglichkeit hat, dem kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft einzuschreiben, wie sie Deutschlands erste Ministerpräsidentin wurde. Unter den aktiveren Beiträgern finden sich auch etliche Publizisten und ehemalige Journalisten. Und auch Institutionen der Geschichtsvermittlung wie das Deutsche Auswandererhaus, haben hier ein weiteres Betätigungs- und Marketingfeld entdeckt. Warum aber ist einestages.de ein so großer Erfolg, dass es sogar als gedrucktes Magazin eigens aufgelegt wird? Ist es nur die Lust der Leser an Geschichte von unten? Sicherlich nicht nur. Denn: Einerseits erfreut sich einestages.de durch die Integration in das tagesaktuelle Angebot von Spiegel Online mit eigener Rubrik und jeweils vier angeteaserten Beiträgen weitaus größerer Bekanntheit als Projekte wie LeMO. Andererseits vereint es sowohl Elemente des partizipativen Journalismus als auch sozialer Netzwerke – Web 2.0 lässt grüssen. Praktischerweise finden sich am Ende vieler Beiträge noch Hinweise zum Weiterlesen. Vom kollektiven Gedächtnis direkt in den Spiegel-Bookshop. Honi soit qui mal y pense.

4.
Bleibt die Frage: Sind Zeitzeugen, die – neben allen professionellen Schreibern – bei einestages.de auch ihre Sicht der Geschichte und ihre persönlichen Geschichten berichten, auch gute und verlässliche Historiker? Der Hirnforscher Wolf Singer (2002) warnte vor einigen Jahren auf dem Deutschen Historikertag, dass die menschliche Erinnerung kein objektives Abbild vergangener Wirklichkeiten liefere. Weil wir uns einerseits auf unsere je subjektive Wahrnehmung nicht verlassen können und andererseits dazu neigen, Erinnerungen als konsistente Geschichten erzählen zu wollen, wodurch es sowohl zu inhaltlichen Verzerrungen, Auslassungen etc. als auch zum Schließen von Erinnerungslücken mit fremden Material kommen kann – der amerikanische Psychologe Daniel Schacter (2005) hat diese das Gedächtnis beeinflussenden Phänomene als seven sins of memory beschrieben. Bevorzugtes Polstermaterial für die eigene Erinnerung sind dabei oft Medieninhalte. Der ehemalige US-Präsidentschaft Ronald Reagan erzählte wiederholt auf öffentlichen Veranstaltungen von einem Erlebnis aus seiner Zeit als Fallschirmjäger im Zweiten Weltkrieg. Aber „Reagan erinnerte sich hier keineswegs an eigene Erlebnisse, sondern an eine Szene aus dem Film 'A Wing and a Prayer' von 1944“ (Welzer 2005). Für die Geschichtswissenschaft ist die Konsequenz aus solchen Beobachtungen klar: Zeitzeugen, aber auch ihre Überlieferungen können uns nicht verlässlich darüber Auskunft geben, wie es in der Vergangenheit wirklich war. Aber auch Medienmacher wie Mediennutzer sollten sich der Gefahr der mit dem Hauch des Authentischen versehenen Zeitzeugenberichte bewusst sein.

5.
User Generated History. Der Erfolg der On- wie Offline-Ausgabe von einestages wird Nachahmer finden. Und vielleicht etablieren sich in der nächsten Zeit weitere Erinnerungsportale – sei es mit journalistischen oder zeit- und alltagsgeschichtlichem Anspruch. Genauso sicher ist aber auch, dass jeder Genre-Boom sein Ende finden wird – das Ende der Geschichte im Netz ist dann nur noch eine schöne Geschichte.






Literatur


Ernst, Wolfgang (2002): Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin: Merve, S. 131.

Nora, Pierre (2002): Gedächtniskonjunktur. In: Transit. Europäische Revue. Nr. 22, S. 18.

Singer, Wolf (2002): Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über den Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft. In: Singer, Wolf (Hrsg.) (2002): Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Gehirnforschung. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 77-86.

Schacter, Daniel (2005): Aussetzer. Wie wir vergessen und erinnern. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe.

Welzer, Harald (2005): Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck, S. 40.