Ausgabe 57
Upgrade der Wirklichkeit:
Zur Zukunft des World Wide Web





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Editorial
Bestellt und nicht abgeholt.
Interview mit Esther Dyson.

Digitalisierter Alltag:
Wirklichkeit und virtuelle Welt verschmelzen

Das Internet der Zukunft:
Wohin geht die Reise?

Die totale Vernetzung
Googelst du noch
oder findest du schon?

Filmgenres 2.0: Zurück in die Zukunft
Du bist die Weltkarte
Fast backward: Die Rückkehr der Geschichte im Internet
Erfolgreiche Obama-Show im Internet
Content is King – Entertainment is Queen: Branded Entertainment
Quo vadis Markenführung im Web
Geistiges Eigentum muss
geschützt werden

Zukunftsmusik

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Das Internet der Zukunft: Wohin geht die Reise?

Text: Heiko Hebig     Bild: k47/photocase.com (Basis), Bearbeitung Björn Brückerhoff  

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Presse

"We don’t make web sites the way our parents did."
David
Siegel in "Creating Killer Web Sites", 1997


Meine Eltern haben weder 1997 noch 2007 Websites entwickelt. Trotzdem ist das Internet heute anders als das Netz, das ich vor über zehn Jahren kennen gelernt habe. Was sich konkret geändert hat und wann das passiert ist, lässt sich rückblickend nicht einfach beschreiben. Das Internet ist mit so einer Macht und Geschwindigkeit in unseren Alltag gedrängt und dort inzwischen nicht mehr wegzudenken, dass lediglich eine Tatsache Bestand hat: Das Internet ist Infrastruktur und als solche weder Trend noch Medium. Das Internet verbindet Menschen und Maschinen und dient Kommunikation und Handel als technologische Basis.

Das digitale Netz hat bereits viele Hype-Wellen erlebt und überlebt. Und auch wenn es nach wie vor viele Menschen gibt, die noch keinerlei bewusste Berührungspunkte mit Internet-Anwendungen hatten, wächst parallel eine Generation auf unserem Planeten heran, der ein Leben ohne Internet gänzlich unbekannt ist und auch unmöglich erscheint.



Das Internet ist erwachsen


Das Internet hat seine Pubertät durchlebt und macht das, was junge Menschen machen, wenn sie ein bestimmtes Alter erreichen: ausziehen in die große, weite Welt. Für das Internet bedeutet dies ein Ausbrechen aus einem ehemals käfigartigen Webbrowser: Desktop-Anwendungen kommunizieren in Echtzeit mit dezentral verteilten Datenquellen, unsere Telefonate aus Übersee werden mittels Voice over IP abgewickelt, Aggregatoren sammeln Nachrichten aus unterschiedlichsten Quellen ein und bereiten die für uns jeweils relevanten Informationen für unterschiedlichste Endgeräte auf, wenn auf der dieser Welt ein Unglück passiert, können wir einen Augenzeugenbericht auf unserem iPhone oder Blackberry lesen, noch bevor eine Nachrichtenagentur die Geschichte aufgreift, Internet-Videos halten Einzug auf dem TV-Gerät in unserem Wohnzimmer.



Always-on“ ist Realität

Online sein“ ist kein Modus mehr, dem wir uns entziehen können. Ob wir wollen oder nicht, das Netz ist in unserer Nähe und versorgt uns unentwegt mit Informationen. Wir googeln die Erklärung eines Fremdworts auf unserem Handy, wir chatten auf Skype mit unseren WG-Nachbarn, wir erledigen unseren Weihnachtseinkauf auf Ebay und Amazon, wir werden ungeduldig, wenn wir nach drei Minuten keine Antwort auf eine Email bekommen, wir beschweren uns mittels Twitter bei unseren Freunden und Followern über eine erneute Flugverspätung, wir beschwören das Ende des Abendlandes, wenn unsere Lieblingswebsite für zehn Minuten offline ist, und wenn wir Langeweile haben, dann poken und gruscheln wir, bis wir merken, dass ein Tag immer noch 24 Stunden hat.


Das Netz ist unser Computer

Bereits seit 1995 predigte Oracle-Gründer Larry Ellison das Kommen eines
Network-Computers“. Im Sommer 2000 stellte er mit dem New Internet Computer (NIC) ein Gerät vor, welches seine Vision manifestierte. Das World Wide Web sei größer und wichtiger ist als das, was wir lokal auf einem kleinen Computer speichern können. Deshalb verzichtete der NIC auf Speichermedien und sollte als Thin Client“ alle notwendigen Anwendungen und Daten aus dem Internet laden. Der NIC scheiterte damals unter anderem daran, dass der Zugang zum Internet nur langsam und teuer war.

Heutzutage verfügt zwar jedes Handy über mehr lokale Speicherkapazität als ein handelsüblicher PC aus dem Jahr 2000, doch Ellisons Idee des Network-Computers ist lebendiger denn je. Geräte wie der Eee-PC von Asus definieren mit den so genannten Netbooks eine neue Generation von
Thin Clients“ und erweisen sich nicht nur Dank der Tatsache, dass 28.8k-Modems der Vergangenheit angehören und schnelle, kostenlose Wifi-Hotspots omnipräsent sind, als kommerzieller Erfolg. In Kombination mit netzbasierten Anwendungen wie Google Docs oder Apples MobileMe erlebt der Thin Client seine Wiederauferstehung.


Wir sind das Netz

Das Internet lebt von unseren Inhalten. Das war übrigens schon immer so. Wer das nicht glaubt, möge bitte den Begriff
Usenet“ auf Wikipedia nachschlagen. Das Produzieren und Veröffentlichen von eigenen Inhalten wird allerdings immer einfacher. Im Jahr 2008 muss man kein studierter Informatiker mehr sein, um ein Foto auf Flickr oder ein Video auf YouTube hochzuladen und mit Freuden zu teilen. Deswegen wird das Internet inzwischen mit nutzergenerierten Inhalten überschwemmt. Und das wiederum ist gut so. Es gibt keine Gatekeeper mehr, die entscheiden, was gut und veröffentlichungswürdig“ ist oder nicht. Diese Gatekeeper sind wird selbst, jeder für sich und jeder so, wie er mag.


Die digitale Revolution schafft neue Märkte und Marken

Wer im Jahr 1995 einen Kinofilm produzieren wollte, scheiterte eventuell bereits an der Aufgabe, die Miete für eine adäquate 35-Milimeter-Filmkamera aufzubringen. Der weltweit führende Hersteller Panavision betrieb ein äußerst lukratives Geschäft mit dem Verleih seiner Panaflex-Kameras. Ende 2005 zettelte Oakley-Gründer Jim Jannard eine digitale Revolution an und begann mit der Entwicklung der RED One, einer digitalen Filmkamera für das Kinoformat zu einem Preis unterhalb der 20.000-Dollar-Grenze. Wer heutzutage einen Kinofilm produzieren möchte, kann seine Kamera für 17.500 Dollar auf der Website von RED online kaufen.

Wer im Jahr 2000 ein Handy kaufen wollte, hatte die Wahl zwischen den damals führenden Anbietern Nokia, Motorola, Ericsson und Siemens. Nachdem man zwischenzeitlich in die Top-3 aufgerückt war, hat sich Siemens inzwischen komplett aus Markt der Handy-Hersteller zurückgezogen, Ericsson ist zu Sony-Ericsson verschmolzen und hinter Samsung auf Platz 4 der weltweit größten Hersteller zurückgefallen. Ganz nebenbei entstand allerdings ein neuer Markt der so genannten Smartphones. Hier teilen sich heute neben Nokia drei Firmen die Marktführerschaft, die vor zehn Jahren noch gar nicht existierten beziehungsweise Handys hergestellt haben: Research in Motion (RIM), HTC und der neue Innovationsführer Apple.



Wohin geht die Reise?

Um auch nur ansatzweise zu erkennen, wie schnell sich die Welt um uns herum entwickelt und verändert, sollte man ein Gespräch mit 12 bis 14-jährigen Schülern suchen, die Email nur verwenden, um mit alten Menschen zu kommunizieren, die sich nachmittags auf StudiVZ verabreden, um gemeinsam
on“ zu sein, die zu alt sind, um im Club Penguin zu spielen und deshalb auf Kwick neue Freunde finden, die auf MySpace neue Musik entdecken und auf YouPorn aufgeklärt werden. Diese heranwachsende Generation versteht nicht, warum man um 20.15 Uhr einen Film im Fernsehen schauen sollte, wenn man den Film doch auch um 19.17 Uhr im Internet abrufen kann, sie versteht nicht, warum das Tauschen von Musik illegal sein sollte und sie versteht nicht den Mehrwert von gedrucktem Papier mit den Nachrichten von gestern. Es ist die selbe Generation, die ihr Taschengeld in Klingeltöne investiert oder in Cheat-Codes für Online-Spiele, die auf der Wii Fit“ den Sportunterricht schwänzt und auf hm.com neue Klamotten bestellt.


Immer schneller, immer mehr

Die Zeit, in der unsere Gesellschaft abends gemeinsam vor dem Fernseher saß, um zwischen drei verfügbaren Fernsehprogrammen zu wählen, ist endgültig vorbei. sie kennen noch das Wort
Gassenfeger“? Streichen sie den Begriff aus ihrem aktiven Wortschatz, verabschieden sie sich von dem Konzept. Willkommen im Jahr 2008, willkommen im Zeitalter der unendlichen Auswahl. Auf YouTube laden Nutzer schon heute 13 Stunden Videoinhalte hoch – pro Minute! Videos zu produzieren und im Internet zu veröffentlichen ist heute kinderleicht. Gehen sie deshalb davon aus, dass jedes Kind auf dieser Welt von dieser Möglichkeit gebrauch machen wird früher oder später, abhängig davon, wo auf der Erde dieses Kind aufwächst.


Du bist ein Server, ich bin ein Server, wir sind alle Server

Legen sie die Vorstellung getrost zu den Akten, dass Webserver große teure wartungsunfreundliche Computer-Kisten sind, die in gekühlten Räumen schlummern, um Millionen von Webseiten gleichzeitig auszuliefern. Es ist schon heute problemlos möglich, ohne technische Vorkenntnisse ein handelsübliches Handy mittels einfach zu bedienender Software in einen Webserver zu verwandeln, der, wenn es gewünscht wird, alle Inhalte auf dem Handy (Fotos, Videos, Termine, Email etc.) über eine UMTS-Verbindung direkt ins offene Internet überträgt. Bereiten sie sich also auf eine Zeit vor, in der jedes Gerät als Webserver fungiert. Das fängt bei Ihrem DVD-Spieler im Wohnzimmer oder bei der Spielkonsole im Kinderzimmer an, und wird sicherlich nicht bei Ihrer digitalen Fotokamera aufhören. Und in wenigen Jahren werden sie sich fragen, wie es damals war in der Zeit, als Ihre Kaffeemaschine noch nicht über eine Internetverbindung bedienbar war.



Jeder Inhalt, jederzeit

Wenn alle unsere Inhalte digital verfügbar sind, wenn Laptops so klein und leicht werden, dass wir sie problemlos immer und überall dabei haben können, wenn alle unsere technischen Geräte
always on“ sind und ununterbrochen im Internet miteinander kommunizieren, dann wachen wir eines Tages auf uns stellen fest, das die Cloud“ kein nebulös schwammiger Begriff mehr ist, sondern gelebte Realität. Wir werden nicht mehr Musik in Apples iTunes Music Store kaufen und dann auf unseren iPod kopieren. Der iPod der nahen Zukunft wird auf Server zugreifen und die Musik direkt aus dem Internet abspielen. Neue Musikdienste wie Spotify zeigen uns den Weg in diese Zukunft. Netzbasierte Software wie Google Docs, auf dem auch dieser Text entstanden ist, lassen uns schon heute erleben, wie sich diese Zukunft anfühlen wird:

Umgeben von permanent verfügbarer Information werden wir nicht mehr
Daten aus dem Netz laden“ sondern mit Daten im Netz arbeiten, diese nicht lokal verändern und dann weiterleiten, sondern im Netz bearbeiten und parallel mit Dritten teilen.


„Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen,
sondern möglich machen.“
Antoine de Saint-Exupéry in
„Die Stadt in der Wüste“, 1948

Der Autor




Heiko Hebig


Heiko Hebig arbeitet als Head of Digital Media bei Hubert Burda Media und treibt im Bereich Research & Development innovative Internet-Projekte voran. Als Business Development Manager leitete er die Aktivitäten der Weblog-Firma Six Apart im deutschsprachigen Raum. Er ist ein Experte für Weblogs, Internet-Communities, sog. Web-2.0-Anwendungen und Content Management Systeme und war bei IconMedialab als IT-Berater für Projekte bei Firmen wie MasterCard, DoubleClick, Siemens Medical und AltaVista verantwortlich. Heiko Hebig führt seit 2000 sein privates Weblog unter
www.hebig.com und ist Twitter-süchtig.

Heiko Hebig hat International Management&Marketing an der Hanzehoogeschool in Groningen (NL) studiert und ist Bankkaufmann.